20.240.929:0.950 Zum Archiv
Es war dunkel. Seine Augen tasten nach ihrem Körper. Weiche Haut berührte seine Fingerspitzen. Augenblicklich ebbt ihr Stöhnen ab, endete in einem tiefen Seufzer. Er zieht ihren Körper an sich. Ihr Bauch wölbt sich ihm entgegen. Ihr Kopf schlüpft wie eine schläfrige Katze unter seinen Arm, kommt auf seiner Brust zur Ruhe.
Was ist los?, fragt er.
Ich habe geträumt, sagt sie.
Was hast du geträumt?
Ein Glück, sagt sie. Ist das schlimm?, fragt er. Nein, aber es spürte sich ein wenig wie Angst an.
Warum?, fragt er.
Was, wenn es uns auseinanderbringt?
Das wäre schrecklich, aber immer noch ein Glück, gibt er zu bendenken.
Würde dich das unglücklich machen?, fragt sie.
Ja, aber leider ist das Glück der einen eben oft das Unglück des anderen.
Zum Glück war es nur ein Traum, sagt sie und ihre Hand wandert langsam zu seiner Scham.
20.240.920:1.345 Zum Archiv
Der Herbst ist ins Land gezogen. Die Straßen leeren sich. Die Heuschrecken verlassen das Land, Schwarm für Schwarm und die kargen, sprachlosen Menschen treten wieder ans Tageslicht, geben ihre geschundenen Seelen preis. Der Priester hebt die Hände zum Himmel und segnet das Land, damit es genesen kann. Brautpaare eilen in Scharen herbei, um sich ewige Treue zu schwören. Der Glaube durchdringt alles, sickert durch den Boden, durchdringt Wald und See und Berg, heiligt die Handlung der Jäger und Fischer, schützt das wilde Getier und gibt den Kindern Heimat. Sie werden mit heiligen Liedern großgezogen und mit Kreuzen auf ihren Häuptern gezeichnet, werden von ihren Eltern zu den Büßerbänken geführt, wo sie niederknien, den Kopf senken und um Gnade bitten.
20.240.915:0.950 Zum Archiv
Er war Lektor in einem kleinen Verlag. Unter anderen Umständen und zu anderen Zeiten hätte ein bedeutender Verleger aus ihm werden können, ein Schriftsteller von Format, der die Massen hinter sich versammelt hätte und die dann, wenn es Zeit gewesen wäre für einen Abgang, zu seinem Begräbnis gekommen wären. Einer wie Sartre wäre er gerne gewesen, einer, der sagt, was er denkt, der sein Herz auf der Zunge trägt und eine starke politische Botschaft hätte, einer der seine Zeit in seinen Texten auf den Punkt bringen hätte können. So einer wäre er gerne gewesen.
Doch die Zeit arbeitete gegen ihn. Schriftsteller von Bedeutung gibt es nicht mehr. Grundsätzlicher gesagt, Kultur von der Art, die eine Vision vor sich herträgt, derer man Bedarf, wie ein Bissen Brot oder eine gute Suppe, die einen in schlechten Zeiten wärmt, wird heute kaum noch gebraucht. Die Medien und ihre soziale Aufgeregtheit, die sich wie ein bleierne Decke über die Welt geworfen hat, lässt feine Zwischentöne, offene Gespräche und Freundlichkeit, die sich im Lüften eines beim Promenieren an einem sommerlichen Sonntagmorgen zeigt, kaum noch zu.
20.240.910:2.137 Zum Archiv
Heute werden sie kommen, denkt er. Er ist vorbereitet. Lebensmittel gebunkert. Dreimonatiges Überleben gesichert. Die Badewanne bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Im Schlafzimmer stapeln sich die Wasserflaschen. Alle überflüssigen Möbel sind verkauft. Nichts ist übriggeblieben außer Bett, Tisch und Stuhl. Ein Gaskocher. Von der Wohnzimmertür kann er quer über den Gang direkt zur Eingangstür sehen.
Alle werden sie kommen. Der Gerichtsvollzieher, die Polizei, die Psychotante, die Speditionsmitarbeiter. Sie werden mehrmals läuten, bevor sie die Tür aufbrechen. Er hat sich kundig gemacht. Bei Widerstand wird eine Verhaftung vorgenommen. Alle gegen einen. Zurückweichen kommt nicht in Frage. Jetzt nicht mehr. Der Prozess ist verloren. Recht wurde gesprochen und Unrecht vollzogen. Für seine Krankheit ist er nicht verantwortlich. Degenerativ nennen sie den Vorgang. Irreversibel. Unheilbar trifft es besser.
Immer hat er die Miete bezahlt, alle Rechnungen beglichen. Gespart beim Essen. Aus dem Haus ist er kaum noch gegangen. Ein sozialer Eremit ist er geworden über die Jahre. Ihn trifft keine Schuld an der bevorstehenden Delogierung. Hier und heute muss Schluss sein mit den Demütigungen durch Ämter, Sozialarbeiter, Mediziner. Er wird ihnen zeigen, wozu verzweifelte Menschen mit Unrechtsbewusstsein fähig sind. Sollen sie nur kommen, denkt er. Den ersten, der durch die Tür kommt, wird er erledigen. Direkt in den Kopf. Sein Munitionslager reicht für ein paar dutzend Leute. Keine Geiseln. Nur glatte Durchschüsse. Eine Granate wenn notwendig.
Keine Verhandlungen mehr.
No pasáran, denkt er.
Mit den Füßen voran.
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