20.230.831:1.030 Zum Archiv
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Trotz allem sollte ich mir keine Schranken durch meine innere Sehnsucht auferlegen und durch meine immer wiederkehrende Melancholie abhalten lassen, zu schreiben, was ich will und was ich kann. Ich sollte mich beschränken auf das, was mein Interesse weckt. Ich will Mathematik nicht verstehen, denn sie trägt meines Erachtens nichts dazu bei, das zu verstehen, was mir ein unbedingtes, ausschließliches Anliegen ist: Die Welt und ihre Erscheinungen, wie sie zustande kommen und welches Verhältnis der Mensch zu den von ihm hervorgebrachten Erscheinungen einnimmt, zu begreifen.

Die Welt aus naturwissenschaftlicher Perspektive zu betrachten, ist durchaus interessant, auftretende Erscheinungen zu benennen, ihre Zusammenhänge zu erklären, aber interessanter scheint mir, zu beobachten, was geschieht, wenn der Mensch hinzutritt, in diese Welt, als Neugeborener in sie eintritt und welche Strategien er entwickelt, um mit ihr zu kommunizieren. Wie er ein soziales Verhältnis zu ihr entwickelt, das nicht vom Überlebensinstinkt allein gesteuert wird, sondern von seinem autonomen Handeln und Wirken.

Insoferne habe ich bei meinem Versuch, einen Roman über meine Generation zu schreiben, übersehen, dass es vielleicht gar nicht darum geht, meine Generation zu charakterisieren, sondern darum, einen Roman zu schreiben, der formal meiner theoretischen und poetologischen Überlegungen zur Prosa gerecht wird, also einem literarischen Kriterium folgt, nicht einem inhaltlichen. Nur so kann es gelingen meine Zeit, also das Jetzt, in der meine Generation nun hineingeraten ist, auf den Punkt zu bringen. Vielleicht müssen deshalb auch alle Geschichten ohne dekorative Vergangenheit, ohne Geschlecht und ohne Berufsbezeichnung auskommen, um diese meine Zeit zu charakterisieren. Um die ahistorischen Lebensweisen und ihre Diskurse, ebenso wie die Auflösung der Geschlechtsindentitäten und Berufsidentifikationen, wie wir sie bisher kannten, literarisch bewältigen zu können, dürfen wir aber dennoch das eigentliche Ziel der Prosa nicht aus den Augen verlieren: das Erzählen.

Kafka hat uns ja bereits vorgezeigt, wie wir in der Moderne schreiben müssen, um zu zeigen, was ist. Er hat den Bildungsroman, den Entwicklungsroman von seinem Ballast befreit, hat beides preisgegeben, ohne dabei das Erzählen aufzugeben. So gelang es ihm, ein bis heute einzigartiges und unerreichtes Prosawerk zu hinterlassen. Ich bin weder mit der Brillianz Kafkas gesegnet, noch habe ich seinen Mut zum Fragment, aber mein Wille etwas zu schreiben, das meinem Denken über die Welt und meiner Auffassung von der Welt gerecht wird, ist ungebrochen.


20.230.830:0.900 Zum Archiv
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Aus mir wird nie ein Akademiker werden und schon gar kein akademischer Philosoph. Ich werde nichts Bedeutendes und Fundiertes beitragen zur Entwicklung irgendeiner Wissenschaft. Das Einzige wozu ich in der Lage bin, ist, zu schreiben, was ich denke. Zu sagen, was die Sprache mir ermöglicht. Die Grenze des Unsagbaren zu erweitern. Und doch bin ich von jeher erfüllt von der Sehnsucht etwas Fundamentales auszusagen, aber dafür bin ich zu unbelesen, zu unakademisch und letztlich zu unphilosophisch in meinem Denken.

Manchmal quält mich dieses Gefühl etwas Bedeutendes tun, ein Denken schaffen zu wollen, etwas das neu ist, außergewöhnlich, wegweisend, bahnbrechend. Um dann doch wieder in tiefe Melancholie zu fallen, wenn ich sehe, wie wiederholend, nachahmend und belanglos mein Denken doch ist. All mein Versuche mich zu erheben, über die Riesen, auf deren Schultern ich stehe, gründen einerseits in den Defiziten meiner Kindheit, die ich strebe auszugleichen und meinen Misserfolgen in Beziehungen zu Menschen, denn am Ende will ich nachweisen, dass mein Leben in irgendeiner Form nützlich gewesen sein soll in der Welt.


20.230.829:1.428 Zum Archiv
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Sie hatte immer schon gewusst, dass ihr Begehren nach einem anderen Menschen nicht an ein bestimmstes Alter, Aussehen oder den Wunsch bestimmte Techniken auszuüben, gebunden war. Ihr Begehren war nicht durch eine bestimmte moralische Vorstellung beschränkt, zumindest keine, die gesellschaftlich verordnet gewesen wäre. Selbst das Geschlecht ihres Gegenüber war nicht von Bedeutung, auch wenn sie vom Grunde her wusste, dass sie den Männern zuneigte, aber Frauen gegenüber nicht abgeneigt wäre oder allem was dazwischen liegen konnte.

Was ihre Libido noch am sträksten beeinflussen, beschränken oder zum Erliegen bringen konnte, war der Geruch, der einem anderen Menschen anhaftete. Der Geruch, der Geschmack, der von einem anderen Menschen ausging, konnte ihr Begehren beschränken, mehr als dies eine körperliche Beeinträchtigung oder eine sexuelle Praktik jemals gekonnt hätte.

Der einzige Moment, der so etwas wie Scham in ihr auslösen konnte, war die Anwesenheit von Publikum. Die Anwesenheit anderer, die nicht Teil der lustvollen Bemächtigung des eigenen oder des fremden Körpers waren. Nur im öffentlichen Raum war ihre Scheu sich mit Hingabe anderen zu zeigen und andere in ihrem Wollen und ihrer Sehnsucht anzunehmen größer als ihre Lust.


20.230.828:0.924 Zum Archiv

Wenn wir sprechen, dann konstituiert sich Welt, zeigt sich das Denken dem Gegenüber, enthüllt man seine eigene Sicht und macht sich angreifbar. Vielleicht sprechen wir deshalb zurückhaltend über unsere Erkenntnisse, über politische Einstellungen oder verschweigen unsere Gefühle. Ist ein Satz einmal gesprochen, eine Aussage getroffen, lassen sie sich nicht mehr aus der Welt schaffen.

Wenn einer sagt: Ich liebe dich, denkt der andere möglicherweise für immer. Hat eine einmal gesagt: Ich liebe dich, so müsste sie, wenn sie nicht mehr liebt, dies im Zweifel auch bekennen und in diesen Momenten sagen: Ich liebe dich nicht mehr. Und während der erste Satz eine wunderbar wohltuende Wirkung auf das Gegenüber hat, kann die Entliebung den Entliebten in Abgründe stürzen. Und weil im Ich liebe dich bereits das Ich liebe dich nicht mehr mitschwingt, sprechen wir es im Alltag nicht leichtfertig aus. Die großen Gesten, die großen Worte sind den großen Momenten vorbehalten. Doch wann haben wir schon Gelegenheiten, im Alltag den großen Moment zu erkennen?

Vieles bleibt deshalb auch unausgesprochen, weil wir uns fürchten vor dem, was wir sagen müssen, wenn die Gefühle, die Erfahrungen und das Leben sich ändern.

In jedem Satz schwingt also im Grunde sein Gegenteil mit, nein, mehr noch, viele mögliche Alternativsätze. Deshalb ist es wichtig, sich beim Sprechen bewusst zu sein, dass im Gesagten ein Nichtgesagtes mitgesprochen wird.


20.230.827:0.930 Zum Archiv

Die Vielfältigkeit und Diversität der heutigen Lebens- und Beziehungsformen in die Rahmenhandlung eines Romanes pressen zu wollen, scheint mir seltsam unliterarisch. Natürlich könnte man Rahmenhandlungen für unterschiedliche Personen finden, aber warum diesen Aufwand treiben? Sicherlich, man könnte jahrelang sein intellektuelles Auskommen damit finden, aber was wäre damit gewonnen? Ein Roman nach dem anderen. Eine Geschichte reihte sich an die nächste. Ein Ich mehr, das keinem nützt. Mir wäre das zu wenig, weil sich die Vielfalt der Vergangenheiten und Gegenwarten meiner Generation nicht als Entwicklungsroman schreiben lässt. Und wenn sich in einem Roman nichts mehr entwickelt, keine Handlung, kein Ich, keine Zeit und keine Bewegung im Raum mehr stattfindet, dann wird sicher der Leser darin verlieren. Und findet der Leser keine Orientierung, so hat der Schreiber sie wohl auch aus den Augen verloren. Was ich damit sagen will, ist: Wir brauchen eine neue Form des Erzählens, wollen wir unserer Geschichte erzählerisch gewachsen sein. Nach dieser neuen Form will ich meinem Romanprojekt suchen, um in all den Möglichkeiten der Welterfahrungen meiner Zeit nicht verloren zu gehen.


20.230.823:0.803 Zum Archiv

Sie ist ausgestattet mit allem, was ein Kind zum Überleben braucht: Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Schulbildung, einem Vater, einer Mutter, Geschwistern, Großeltern, Onkeln und Tanten, Großtanten und Großonkeln, Cousins und Cousinen. Sie lebt mitten unter ihnen, versorgt und behütet und fühlt sich dennoch wie gestrandet auf einem fremden, unbekannten Kontinent. Nicht entfremdet durch Handlungen und Taten, wie andere manchmal denken, sondern grundsätzlich fremd. Sie weiß nicht, woher diese Fremdheit kommt. Vom Vater? Der müsste ihr vertraut sein, denn sie ist eines seiner Ebenbilder. Von der Mutter fremd gemacht? Kann sie nicht sagen. Nur eines weiß sie genau: Sie lebt als Kind getrennt von den anderen. Es gibt Glücksmomente. Einige kann sie fühlen. Glück jedoch stellt sie sich anders vor. Glück bedeutet für sie aufgehoben sein, eingemeindet sein, dazugehören, eine Heimat bei den Menschen und durch die Menschen erfahren. Es gibt Tage, an denen umspült sie ein warmes und wohliges Gefühl. Und an diesen Tagen sitzt sie am Ufer des Sees und hört das Plätschern der unnachgiebigen Wellen.


20.230.806:0.844 Zum Archiv

Hiroshimatag. Um 8:16 detonierte Little Boy über der Innenstadt von Hiroshima. Mehr als hunndertausend Menschen starben in der selben Sekunde. Der Schrecken der Bombe liegt aber nicht in der Zerstörungskraft des Einzelereignisses, sondern in der Tatsache, dass wir den Bauplan nicht mehr aus der Welt schaffen können. Mit dem Bau und Abwurf der Atombombe haben wir ein neues Zeitalter eingeläutet, den Nullpunkt der Menschheitsgeschichte hergestellt, den Tag definiert, von dem aus die Menschheit unwiderruflich in die Lage versetzt wurde, sich selbst auszulöschen.


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