20.230.717:1.100 Zum Archiv
Der ist für dich Vater, murmelt der Mann und schlägt seinen schweren Hammer auf ein glühendes Stück Eisen.
Funken fliegen bei jedem Hammerschlag in die hereinbrechende Nacht.
Der ist für dich Mutter, murmelt der Mann und schlägt seinen schweren Hammer auf das glühende Stück Eisen.
20.230.714:0.957 Zum Archiv
Er muss festhalten, dass in seinen guten Zeiten immer Sommer ist. Selbst im Winter ist an den guten Tagen in ihm immer Sommer. Er ist das einzig Beständige in seinem Leben. Doch über die beständigen Zeiten lässt sich wenig sagen. Die Unbeständigkeit ist das, was seine Existenz ausmacht. Die immerwährende Umwälzung allen Daseins. Die unablässige Zerstörung des Gewesenen verhindert sein heimisch werden in der Welt. Die Fremdheit ist das Einzige, von dem er denkt, das es in seinem Leben Bestand hat, dass sie wie eine Naturgesetzlichkeit in ihn eingesickert ist, wie der Nebel im Herbst in die von späten Stürmen ausgetrocknete Erde eines sich zurückziehenden Sommers.
Seine Fremdheit ist aber keine stille, keine sprachlose, nein, sie ist wortgewaltig und sprachgewandt. Sie begleitet ihn, seit er denken kann. Ob es eine Zeit vor der Fremdheit gab, kann er nicht sagen, von ihr weiß er sich, kein Bild zu machen. Vielleicht wird es in seiner Nachgeschichte so etwas wie Heimat geben, in den Geschichten, die von ihm erzählt werden, als wäre er heimisch gewesen in der Welt der anderen. Aber über eine Vorgeschichte im eigentlichen Sinne kann er nichts berichten. Er ist da und in seiner Erinnerung war er immer schon da. In der Welt. Mit seinem Namen in die Welt eingeschrieben. Nicht mehr ungeschehen zu machen. Damit beginnt alle Geschichte. Alle Fremdheit. Über diese Fremdheit würde er gerne erzählen. Noch einmal. Ein allerletztes Mal.
Er hat sich die Geschichte schon so lange hergesagt und mit ihr all jene Erzählungen über Menschen, die sich in seinem Leben eingenistet haben, bis er in die Lage versetzt worden war, sie wortgetreu aufzusagen. Endlich kann er eine Geschichte erzählen, die frei erfunden ist, die auf ihn selbst verweist und dennoch immer wieder von ihm abgewiesen werden kann. Das gehört zu den ganz eigenen Dingen, die einer wie er vollbringen muss, einer der gewohnt ist, Geschichten zu erzählen. In so einer Geschichte liefert der Mensch sich aus. Gibt sich hin. Gibt sich preis und bleibt sich doch selbst fremd, auch wenn andere glauben, ihm durch sie näher zu kommen, ihn fassen zu können, ein Stück von seinem selbst enthüllt zu sehen.
20.230.712:0.839 Zum Archiv
Alles muss aufgeschrieben werden, nichts davon darf verloren gehen, und es muss eine Sprache für die aufgesparte Geschichte gefunden werden. Was verloren ist, muss wiedererrungen und aufgegriffen werden, dort, wo es oft auch schon endet: Bei der ersten Erinnerung, beim ersten Wort, beim ersten Satz, den ein Mensch über sein Leben erzählen kann. So als gäbe es nur ein einziges Leben im Leben. Doch der Mensch lebt öfter als einmal in einem Leben und jedes Ich liegt unter dem Schutt des nachfolgenden begraben. Aber um zu erzählen, muss der Mensch so tun, als hätte er ein zusammenhängendes Leben gelebt, wo alles auf ihn zuläuft und von ihm wegweist, auf dieses Ich, von dem alle so gut Bescheid wissen, und nur der, dessen Ich gemeint ist, als einziger, nichts darüber auszusagen weiß.
20.230.709:0.822 Zum Archiv
Nachts kann der Mensch dem Rhythmus der Stille lauschen, dem Dröhnen eines Sturms, wo ein Ton vom anderen kaum noch zu trennen ist, über die Berge fegt und ein ohrenbetäubendes Heulen und Jaulen durch die Ritzen der Fenster und Türen in sein Haus, in seine Dachkammer presst. Nachts kann der Mensch die Fenster öffnen und alles einlassen, was nicht menschlich ist. Nachts ist alles nur schemenhaft zu erkennen. Die Gegenwart scheint wie ausgelöscht und eine Zukunft braucht es in der Düsternis der Nacht nicht. Nur nachts ist es möglich, dass die Geister der Kindheit auferstehen und sich heimsuchen lassen und bei geschlossenen Augen einen beinahe unmerklichen Spalt zwischen der hellschwarzen Dunkelheit und der geistigen Umnachtung zulassen. In diesem Zwischenraum ist alle Erinnerung fremd und erzählbar.
20.230.707:1.637 Zum Archiv
Etwas ist in mir zum Stillstand gekommen. Dieser unbändige Wille meinem Leben einen Sinn geben zu wollen.
20.230.706:1.828 Zum Archiv
Der Nullpunkt einer Geschichte ist nicht der vermeintliche Höhepunkt, auf den alles zustrebt, wo die Reinigung, die Sühne der Menschen stattfindet, wo alles Schwere von ihnen abfällt und sich alles in Wohlgefallen auflöst. Der Nullpunkt einer Geschichte ist immer willkürlich, selten der Anfang, sondern immer der Punkt, auf den sich Vergangenheiten zuarbeiten und von wo aus zukünftige Ereignisse erfunden werden. Der Punkt, wo alles hinläuft und von wo alles wegläuft. Diesen Nullpunkt kann der Mensch nur nachts aufsuchen, wenn es still ist und selbst die Natur nur gelegentlich Geräusche ausdünstet, die aus den frischgeschorenen Wiesen des Sommers aufsteigen oder sich über dem zugefrorenen See des Winters wie eine Schallkaskade im Tal ausbreiten.
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