20.230.625:1.347 Zum Archiv

"Ich weiß, ich hätte ihn verdient den schmerzlosen Tod. Aber ich habe den Krebs aus Solidarität gewählt."
"Aus Solidarität?"
"Ja, Solidarität mit meiner Frau."
"Aber warum Krebs?"
"Vielleicht wollte ich mich dafür bestrafen, dass ich einmal zu viel überlebt habe."
"Das ist doch verrückt."
"Ja, ich war verrückt, damals, in den Wochen nach ihrem Tod."


20.230.624:1.619 Zum Archiv

Ich werde noch vier Jahre meine Pflicht an der Front des Arbeitslebens erfüllen, in einer der bedeutendsten Vorfeldorganisationen des modernen Kapitalismus, in einer seiner Kaderschmieden, einer berufsbildenden höheren Schule. Ich werde meiner subversiven Guerillapädagogik nachgehen, erfüllen, was mein verfassungsgemäßer Auftrag ist, niedergeschrieben im Artikel 14, Absatz 5a:

Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den Menschen sind Grundwerte der Schule, auf deren Grundlage sie der gesamten Bevölkerung, unabhängig von Herkunft, sozialer Lage und finanziellem Hintergrund, unter steter Sicherung und Weiterentwicklung bestmöglicher Qualität ein höchstmögliches Bildungsniveau sichert. Im partnerschaftlichen Zusammenwirken von Schülern, Eltern und Lehrern ist Kindern und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche Entwicklung zu ermöglichen, damit sie zu gesunden, selbstbewussten, glücklichen, leistungsorientierten, pflichttreuen, musischen und kreativen Menschen werden, die befähigt sind, an den sozialen, religiösen und moralischen Werten orientiert Verantwortung für sich selbst, Mitmenschen, Umwelt und nachfolgende Generationen zu übernehmen. Jeder Jugendliche soll seiner Entwicklung und seinem Bildungsweg entsprechend zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt werden, dem politischen, religiösen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Kultur- und Wirtschaftsleben Österreichs, Europas und der Welt teilzunehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.

Wer diesen Auftrag der Verfassung ernst nimmt, muss im Widerspruch zum derzeitigen Schulsystem stehen, sich in einen politischen Außenseiter verwandeln, denn die Schule von heute repräsentiert wie jene von damals, als ich sie besuchte, das Gegenteil des Geistes unserer Verfassung. Wer, so wie ich, beinahe dreißig Jahre seines Lebens an verschiedenen Orten des Bildungssystem sein leben verbracht hat, kann gar nicht anders, als festzuhalten, dass die Schule ein Ort des Schreckens, der Verzweiflung und der geistigen Vernichtung ist, wie es einst Thomas Bernhard festgestellt hat und auch Torberg konnte ein Lied davon singen oder Hesse oder Musil. Die Liste derer, die über Zumutungen österreischer und preussischer Schulsysteme schrieben, ist beinahe endlos.

In diesem Sinne: Würden wir unsere eigene Verfassung ernst nehmen, könnte in unserem Schulsystem kein Stein auf dem anderen bleiben.

Wie gesagt, ich werde noch vier Jahre meine Pflicht an der Front erfüllen und dann werde ich mich davonschleichen, still und heimlich und es wird so sein, als wäre ich nie dortgewesen, denn einer wie ich ist entbehrlich für dieses System. Bleiben wird von mir eine Art Geist, der ich heute schon bin, ein pädagogischer Geist der in der Bildungslotterie für manche Bildungskarriere eines Schülers die Weichen in Richtung geglückter Schullaufbahn rücken kann. Aber im Grunde kann ein Geist nichts an der grundlegenden Misere ändern, am status quo, an einem System, in dem die Institution immmer vor dem Menschen kommt.

Und jeden Tag, wenn ich meine Schule betrete, kann ich Kafka lachen hören. Und vielleicht sollte ich in diesen letzten vier Jahren lernen, mit ihm gemeinsam zu lachen.


20.230.606:1.952 Zum Archiv

Die Zeiten, in denen ein Frühling verlässlich auf samtenen Pfoten in das Tal hereinschleicht und in den ersten Märztagen den Schnee mit aller Macht hinwegrafft, sind vorbei. Unruhe zieht durch den Sommer, wenn unter brütender Hitze die Fische nach Atem ringen im grünen Brackwasser der Seen an den ehemals blauen Ufern. Aufruhr herrscht im Herbst, wenn die Blätter an den Bäumen und Sträuchern in prachtvollen Farben an den letzten reifen Sommerabenden verglühen sollen, aber es nicht zu Wege bringen und bis weit in den November braun und unansehnlich an den Zweigen dahindämmern, nicht lebendig und auch nicht tot. Und der Winter schließlich ist ein wütender, verwirrter von Tobsuchtsanfällen gequälter Geist in diesen Zeiten, in denen er um seine letzten mächtigen Tage ringt, die er an den Wandel der Jahre zu verlieren droht. Launenhaft sind die Zeiten geworden, unverlässlich und wetterwendisch.


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