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Wir, die Boomer, sind aufgewachsen mit den Geschlechteridealen der fünfziger und sechziger Jahren, doch während unserer Jugend waren sie bereits brüchig geworden, waren sie nicht mehr gefragt in Kunst und Kultur, mehr noch durch die Achtundsechziger verpönt und diskreditiert. Und so versuchten wir unseren Platz in der Welt der Erwachsenen zu finden. Die Ideale unserer Eltern, den Kriegskindern taugten nicht für aufgeschlossene, rebellische Jugendliche und die Ideale der Achtundsechziger waren uns verwehrt, denn als wir in unsere Zwanziger kamen, hatte die Reaktion sie längst aus den Angeln gehoben und die Gesellschaft mit heftigen Repesalien auf alles reagiert, was dem aufgeklärten Bürgertum in ihren Puppenstuben gefährlich werden hätte können. Und im deutschen Herbst schließlich, damls war ich fünfzehn Jahre, schlug der Staat mit aller Macht zurück.

Als wir Boomer aus den Elternhöhlen gekrochen kamen, damals in den späten Siebzigern hatte sich der Rauch längst verzogen und unsere älteren Geschwister hatten sich längst in ihre kleinbürgerlichen Stuben, Einfamilienhäuser und Herrgottswinkel zurückgezogen, in denen sie sich auskannten, wie in ihrer eigenen Westentasche, denn sie hatten die bürgerlichen Existenzen mit der Muttermilch aufgesaugt und verinnerlicht, wie es uns Boomern nicht mehr gelingen konnte. Schließlich war das Säugen an der Zitze der bürgerlichen Mutterbrust längst aus der Mode gekommen und beide Konzepte, Kleinbürgerlichkeit und Anarchismus waren diskreditiert. Die späten sechziger und frühen siebziger Jahre wurden zum Sargnagel für die aufstrebende, willige, arbeitswütige Generation der Boomer, die auf Grund der damaligen historischen Ereignisse zwischen Anarchismus und Kleinbürgerlichkeit in einem Nirgendwo verloren gingen. Für die Boomer waren die Utopien der einen wie die der anderen untauglich, um sich in ihnen einzunisten und heimisch zu werden. Und eigene waren sie nicht in der Lage zu entwickeln, weil sie versuchten einen Platz zwischen den älteren Brüdern/Schwestern und ihren Eltern zu finden. Vielleicht liegt ja darin das Geheimnis, dass die Boomer sich mit ihren Großeltern, wenn auch nicht mit den den Blutsverwandten, so gut verstanden. Sie nahmen sich die als Vorbilder, die vor dem Krieg bereits erwachsen geworden waren. Und vielleicht liegt ja auch darin begründet, warum ich selbst mich mehr für das Fin de siecle und die Expressionisten begeisterte, als für Mao, Ho Chi Minh oder Che Guevara, weil das Angebot das Kafka, Rilke, Horvath oder Brecht, ihre Utopie sich vollkommen vom politischen Angebot meiner Eltern und jener meiner älteren Geschwister unterschied.

Der Aufbruch von damals war ein existenzieller, ein allumfassender, eine künstlerische Entäußerung, die nicht nur den Geist, sondern auch den Körper betraf, die nicht bloße ideologische Gräben aufriß, sondern versuchte, jenseits der Ideologie eine Utpie zu entwerfen, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassen sollte. Wir Boomer hatten den Willen die Welt zu verändern, aber in unserer Jugend hatte sich die Welt in eine Form verwandelt, die unserer nicht mehr bedurfte. Und so endete unser Wille zur Leistung in einem heillosen Versuch unsere ubedeutende Existenz in einer Art Konsumrausch zu ersticken. Wir passten uns an und hielten so lange still, bis das System die besten unter uns ausgelöscht und die mittelmäßigen aufgesaugt hatte, sie in Systemerhalter und Mitläufer verwandelt hat.


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