20.240.330:0.722 Zum Archiv

Der Begriff der Generation ist aus vielerlei Gründen problematisch, aber vor allem deshalb, weil er eine Zusammengehörigkeit unterstellt, die über das Historische hinauszuweisen scheint. Doch das ist ein Irrtum, das Historische ist wohl das Einzige, was Generationen im Kern gemeinsam haben. Um sich diesem Kern einer Generation von ihren beiden chronologischen Enden her zu nähern, wäre wohl der Begriff der Kohorte, also Menschen, die einem Jahrgang angehören, zu bevorzugen. Kohorten treten gemeinsam in die Schule ein und durchlaufen damit eine der prägendsten Zeiten ihres Lebens als Kollektiv. Besonders zeigt sich diese Verbindung von Mitgliedern einer Kohorte am Land.

Je näher Kohorten beieinander liegen, desto stärker ist das historische Hintergrundrauschen der Generation zu vernehmen, das sie verbindet. Von diesem Hintergrundrauschen und der Nähe der Kohorten zueinander, werden die Generationen beeinflusst. Nicht nur die individuelle Erfahrung führt Menschen zueinander, verbindet sie oder entfernt sie und trennt sie, sondern vor allem auch das umfassende Eingebundensein in eine kollektive, sozio-politische Erfahrung prägt die Menschen.

Es macht also durchaus einen Unterschied, welcher Kohorte man angehört, vor welchem historischen Hintergrundrauschen man sein Leben lebt. Es ist kein Zufall, dass wir uns von den Mitgliedern unserer Kohorte eher verstanden fühlen, selbst wenn wir unterschiedliche persönliche Erfahrungshorizonte haben, als von unseren großen Brüdern und Schwestern oder unseren eigenen Kinder.

Wenn wir wissen, was Kohorten gemeinsam haben, worin sie sich unterscheiden und ihre historischen Horizonte erkannt bzw. beschrieben haben, dann ergibt sich die Definition einer Generation von selbst. Deshalb ist es wichtig, die Generation nicht über eine Verallgemeinerung von Erfahrungen zu definieren, sondern über eine Spezifizierung der historischen Bedingungen der einzelnen Kohorten, die wir - noch oder bereits - zu einer Generation zählen.


20.240.329:1.756 Zum Archiv

Es ist kein Wunder dass wir vom historischen Materialismus sprechen und dass Marx seine ökonomischen Überlegungen mit einer historischen Basis untremauerte, denn es ist unmöglich den Kapitalismus zu verstehen, wenn man ihn nur aus ökonomischer Perspektive betrachtet, denn irgendwann muss man sich beim Nachdenken über das Kapital die Frage stellen, wie ist es entstanden und wer hat es mit welchen Mitteln hervorgebracht.

Das Kapital fiel ja nicht vom Himmel, es musste von irgendwem hervorgebracht, sozusagen erfunden, erwirtschaftet und letztlich vermehrt werden. Und bei der Beantwortung dieser Frage landet man augenblicklich in historischen Zusammenhängen. Doch in unserer Zeit, und das ist das Tragische an ihr, ist der Verlust des historische Bewusstseins. Wir versuchen alle Gegenwart aus den gegenwärtigen Verhältnissen heraus zu erklären. Was wir dabei übersehen, die Gegenwart an existiert nicht, hat keine Existenzform im eigentlichen Sinne, ist immer nur ein Schnittpunkt, an dem sich Vegangenheit und Zukunft für einen kurzen Augenblick begegnen.

Der Verlust des Historischen im Diskurs, der Verlust des Wissens darüber, wie Konflikte, Machtverhältnisse und Gesellschaften entstehen, beraubt uns gleichzeit auch unserer Utopien oder noch viel schlimmer, unseres utopischen Denkens, unserer utopischen Vorstellungen, also unserer Fähigkeit Zukunft zu denken und zu gestalten. So bleiben wir in der Gegenwart gefangen, ohne Bewusstsein für unsere Herkunft. Und das macht uns anfällig für Ohnmacht, Angst und der daraus entstehenden Wut, die sich gegen alles richtet, was nicht ist, wie wir im Hier und Jetzt sind.

Doch das, was mich am meisten stört am Verlust des Utopischen, ist ja das, was ihr innewohnt, nämlich die Möglichkeit zu scheitern, nein, schlimmer noch, wir tun alles dazu, Fehler zu verhindern, Störfaktoren zu eliminieren, weil wir denken, nur der störungsfreie Betrieb des Kapitalismus bringt uns durch die Schrecknisse des Tages. Doch was wir dabei übersehen: Am Ende eines jeden Tages bleibt nur der Schrecken.


20.240.328:0.924 Zum Archiv

Für viele Autoren und Autorinnen des Zwanzigsten Jahrhunderts gibt es würdige und weniger würdige Nachfolger und Nachfolgerinnen. Auf einen Brecht folgten Heiner Müller und Achternbusch, auf einen Rilke einer wie Celan oder Jandl und im Gefolge von Hesse tummeln sich heute noch Erzähler und Erzählerinnen, die sich in Entwicklungsromanen verlieren, ins Erzählen verliebt sind, als würde sich darin ein altes, lang verschollenes Geheimnis verbergen. Aber für einen wie Kafka gibt es keinen Erben und keine Erbin.

Kafka ist ein Monolith geblieben. Unerreicht in dem, was er schuf. Er taumelte in die Moderne hinein, wie einer der im Dunkeln tappt, weil er den Lichtschalter nicht rechtzeitig fand. Und er schreibt im Dunkel, um die Welt zu erhellen. Kafka ist keiner, der endlose Interpretationen zulässt, auch wenn wir es uns wünschen würden, es möge ihn doch ein Geheimnis umgeben. Nein, Kafka ist einer, der beschreibt, was ist. Einfach und direkt. Die bereits in vollem Schwung befindliche Moderne beobachtet und ungeschmickt den verlorenen, verwaisten, einsamen Menschen in ihr zeigt. Eine Existenz ohne Existenzberechtigung. Ein Individuum, das der Welt ausgeliefert ist, weil die Welt ihn nicht als den erkennt, der er gerne sein möchte.

Kafka ist deshalb ein Monolith, weil, was ihm gelungen ist, niemandem mehr gelingen kann, das Erzählen an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu bringen, Raum und Zeit aufzulösen und das Individuum zu zeigen, wie es ist, nackt und bloß und ohnmächtig. Ein Spielball. Gefangen in der Welt, um mit Sartre zu sprechen, in die Welt geworfen, die es nicht verlassen kann, außer durch den Tod, was im Roman Der Prozess und vielen anderen Texten von Kafka durchaus in Aussicht gestellt wird.

Kafka gibt uns keine Rätsel auf, sondern wir wollen rätseln, denn würden wir anerkennen, was Kafka sagt, nackt und bloß, müssten wir handeln und schreien und toben und revoltieren. Aber lieber beugen wir uns über unsere Schreibtische, lesen Kafka und denken, ach was für ein rätselhafter Autor, was wollte er uns bloß sagen. Und weil wir Angst vor den Konsequenzen seiner Texte haben, vertiefen wir uns in seine Biographie, zerstückeln sie und zerlegen sie, bis nichts mehr von ihr übrig ist. Wir entwerten ihn mit unserer Gier nach Rätselhaftigkeit und verdecken so seine einfache und klare Botschaft, damit sie im Licht seiner Texte nicht zu Tage treten kann: Der Mensch wird in der Moderne ausgebeutet, entrechtet und zerstört.

Und in dem wir Kafka zu Tode biographieren, tun wir genau das, was er uns in seinen Texten offenbart hat, wir zerstören ihn als Autor mit einer Botschaft, die uns zum Handeln auffordert, den Nebel vor dem Schloss zu lichten, die Tätowiermaschine in der Strafkolonie anzuhalten und dem Dachs einen Weg aus seinem Bau zu weisen und ihm zu versichern, dass wir ihm eine Welt geschaffen haben, in der er frei und in Sicherheit leben kann.

Wer Kafka ernst nimmt, ist aufgefordert zu revoltieren, denn das ist es, was seine Literatur ist, eine Revolte gegen den eigenen persönlichen Untergang, gegen das eigene persönliche Scheitern, dem niemand von uns entkommen kann. Aber wir können dieses Leben in der Hölle der anderen verbringen oder in der Hoffnung, die uns in der Figur von Brechts Shen-Te mit auf den Weg gegeben wurde.

Kafka ist kein Prophet des Untergangs. Kafka ist ein Autor, der uns zeigt, in was für einer Welt wir leben. Was wir aus Kafkas Texten machen, bleibt uns überlassen. Was wir aber auf keinen Fall tun sollten, so tun, als wäre in seinen Texte ein großes, unenträtselbares Geheimnis verborgen. Zumindest sollten wir das nicht tun, wenn wir sein Werk ernst nehmen.


20.240.327:1.750 Zum Archiv

Wenn dieser Frühling der letzte wäre und ich sähe nicht in seinen Himmel, nicht das Blühen der Kirschbäume und auch nicht den Flieder, der sich bereit macht, sich frühzeitig zu entfalten, bevor die Mütter dieses Landes geehrt werden, was würde sich dann ändern, an diesem Ende, das unausweichlich ist?

Nichts.

Ob wir nun sehen, was uns umgibt, ob wir Erinnerungen sammeln, Bilder in Alben kleben von Reisen durch die Welt, ob wir Eroberungen sammeln oder uns sinnlos betrinken. Nichts davon können wir hinüberretten in die Finsternis, die auf uns wartet.

Aber es schadet ja auch nichts, in diesem vielleicht letzten Frühling meiner Zeit, stehen zu bleiben, inne zu halten, einen Blick über die Schulter zu werfen, auf den Schnee, der auf den Wiesen in der Sonne verrottet und die leuchtenden Forsythien, die den Sommer ankündigen, den letzten, vielleicht.


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