20.230.311:1.625 Zum Archiv
Gestern Abend klopfte es an meiner Tür. Es war spät. Ich war kurz vor dem zu Bett gehen. Mit der Frage, wer mich so spät noch stören würde, ging ich unwillig zur Tür und staunte doch ein wenig, als ich sie öffnete und davor eine Präposition stand. Sie kauerte mehr, als sie stand und wirkte orientierungslos und ein wenig verzweifelt. Sie blickte sich immer wieder um, als fürchte sie, verfolgt zu werden.
Beim Anblick dieses Häufchens Wortelend verflog meine schlechte Laune augenblicklich und ich begrüßte die Präposition freundlich mit einem "Guten Abend".
Sie antwortete ohne Umschweife: "Darf ich eintreten, es eilt ein wenig."
"Natürlich, einem Wort steht mein Heim immer als Zuflucht offen."
Die Präposition trat rasch ein, ich schloss die Tür und bat sie in meine kleine Küche. Ich fragte: "Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wasser, einen Tee, einen Kaffee?"
"Nein, danke", sagte die Präposition und fügte dann rasch hinzu, "oder doch, vielleicht einen Schnaps?"
"Ich habe nur einen Marillenschnaps", sagte ich.
"Warum nicht. Marille ist zwar keine Zwetschke, aber im Zweifel nimmt man, was man kriegen kann."
Ich ließ diese Kritik im Raum stehen, holte ein Schnapsglas und stelle eine Flasche Marille auf den Tisch. Die Präposition schenkte sich ein Glas ein und leerte es auf Ex. Sie beruhigte sich zusehends, da sie sich in Sicherheit wusste. Ihr Atem rang nicht mehr permanent nach Luft, so dass man denken konnte, sie würde gleich in Ohnmacht fallen und ihre paranoide Haltung wich einer entspannteren Körperhaltung. Plötzlich aber richtete sie sich auf und sagte: "Wie unhöflich von mir. Ich habe mich nicht vorgestellt. Mein Name ist Für."
"Angenehm", antwortete ich. "Mein Name ist Franz. Was kann ich für Sie tun."
"Ach, wissen Sie, lieber Franz, ich bin auf der Flucht."
"Vor wem flüchten Sie denn?"
"Vor den Sprachschändern und den Sprachverachterinnen."
Ich konnte mir gerade einmal ein "Aha" abringen und hoffte auf weitere Erklärungen.
"Für Sie, Herr Franz, muss es ja ein wenig seltsam anmuten, wenn einer wie ich, ein Für, sich verfolgt fühlt. Aber in den letzten Jahren wurde ich mehrmals in Sätzen mit Verben in Zusammenhang gebracht, für die ich nicht verantwortlich sein will und aus moralischen Gründen auch nicht sein kann. Sie können sich nicht vorstellen, wie demütigend es ist, sich plötzlich in Gesellschaft von Verben wiederzufinden, für die ein Für nicht gemacht ist. Plötzlich finden Sie sich wieder in Sätzen wie: Man kann doch für einander sitzen. Man hat in diesem Fall ein Neben entfremdet und mich an seiner Stelle zum Aufenthalt in einem Satz gezwungen, den ich durch meine Anwesenheit so in einen mehr als zweifelhaften Inhalt verwandelte. Und ich war nicht einverstanden damit. Und dem Neben hat man damit sicher auch keinen Dienst erwiesen. Ich will mir nicht vorstellen, wie es dem Neben nun geht und wo es eingesetzt wurde, vielleicht in einem Satz wie: Ich kann ja neben dem Reden laufen. Ja, so einen Satz könnte es geben, heute, in dieser vermaledeiten Welt der Sprachverrohung. Und ein Während sitzt währenddessen irgendwo verloren und heimatlos herum, auf der Suche nach seinem Platz in der Sprache, den es nicht mehr finden kann, weil ein Neben ihn sicht gerkallt hat. Und gleichzeitig macht sich ein Im mit einem Nomen gemein, das eindeutig mir, dem Für zustehen würde. Letztens erst bin ich in folgendem Satz einem Im begegnet, ohne Vorwarnung lief es gemeinsam mit einem Einkaufen an mir vorbei. Hand im Hand hätte ich beinahe gesagt, während ich mit einem Sitzen zusammenstand. Unverschämt lachten sie zu uns herüber, die beiden, und im Schlepptau ein Nomen, einen Artikel und dann noch eine Zeitanagbe: Im Einkaufen hatte er in Nachmittag viel Geld bei sich. Und ich will mir gar nicht vorstellen, wie es dem Am ergangen sein muss, das vom In beim Nachmittagseinkauf ausgebootet worden war."
Ich lauschte der Präposition andächtig und wusste genau, wovon sie sprach. Täglich begegneten mir in Medien, beim Einkaufen und in alltäglichen Gesprächen Nomenräubereien und Verbverluste und sie blieben immer ungesühnt. Niemand kümmerte sich um den grammatischen, den syntaktischen Schmerz, den sie, den Worten damit zufügten. Es schien beinahe so, als würde die Präposition mit jedem Satz, den sie sprach, entspannter und die Angst des Für verwandelte sich langsam in einen Ärger, der das Potential aufwies, sich zur Wut zu steigern.
"Ich wage mich manchmal nicht mehr auf die Straße vor lauter Scham, weil es eben für uns Präpositionen nichts Wichtigeres gibt, als mit jenen Nomen und Verben gemeinsame Sache zu machen, die zu uns passen, für die wir geschaffen wurden vom Geist der Grammatik. Stellen Sie sich vor, sie müssten sich mit einem wildfremden Menschen, den sie nicht kennen, der ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten nicht entspricht, gemein machen. Sich ihm anbiedern, vielleicht sogar noch mit ihm intim werden. Wäre das für Sie in Ordnung? Wäre das für irgendeinen Menschen in Ordnung? Aber uns Präpositionen zwingt man dazu. Mit uns kann man das ja machen. Wir können uns ja nicht wehren. Manchmal hätte ich Lust diesen grammatsichen Maulhelden mal ihr liederliches Sprachmaul zu stopfen. Aber meine Natur ist nun mal das Für und ich bin ja für jemanden da, zu etwas nutze. Die Faust hingegen ist ja eher einem Mit und einem Zuschlagen zugetan."
Kurz hielt die Präposition inne und warf einen Blick gegen einen imaginären Himmel, als rufe sie Mutter Grammatik oder Vater Syntax an und setzte dann fort: "Ich hatte schon überlegt, mich auf ein Auf umschulen zu lassen, denn die haben es viel leichter in dieser Welt. Jeder geht doch gerne auf einen Berg oder sitzt auf einem Sessel. Niemand käme auf die Idee ein Auf zu missbrauchen, es mit einem Verb in einen Satz zu zwingen, das nicht dafür geboren wurde."
"Sie haben mein vollstes Verständnis", unterbrach ich das Für an dieser Stelle. "Aber was kann ich für Sie tun? Ich meine, ich genieße Ihre Bekanntschaft und Ihren Besuch. Ich bin ganz bei Ihnen. Doch was erwarten Sie von mir, außer Schutz und einen Schnaps fürs Gemüt?"
"Ach wissen Sie, in Ihrer Profession haben Sie doch Möglichkeiten, Sie können doch etwas für uns geschundene und gequälte Präpositionen tun. Legen Sie ein gutes Wort ein bei Ihren Lesern und Leserinnen. Schreiben Sie über uns. Berichten Sie von unserem Schmerz. Setzen Sie sich ein für eine Sprache, die darauf beharrt, dass wir Präpositionen unseren angestammten, grammatischen Platz behalten dürfen, denn ohne Ihre Unterstützung, ohne die Schreiber und Schreiberinnen, die uns Wörter in Ihren Texten nutzen, sind wir nichts, haben wir keine Bedeutung, denn sie erheben uns über das alltägliche Sprechen der Menschen, wo wir an Orten auftauchen, an denen wir nichts verloren haben, an Sprachfronten kämpfen, an denen wir nur gedemütigt und erniedrigt und vor allem entfremdet werden. Sie müssen uns vor der Heimatlosigkeit retten. Geben sie uns unsere grammatische, unsere syntaktische Heimat zurück. Darum wollte ich Sie bitten. Sie sind meine einzige, meine letzte Hoffnung, in einer Welt der schamlosen Worterniedrigung."
Ich sah die Präposition verblüfft an und sagte: "Den Wunsch kann ich leicht erfüllen. Bleiben Sie noch ein wenig und erzählen Sie mir mehr von ihrem Heimatverlust."
Die Präposition verließ ihren Platz, kam auf meine Seite des Tisches und umarmte mich wortlos. Nachdem sich Für von mir gelöst hatte, fragte ich: "Noch einen Schnaps für Sie?"
20.230.329:1.901 Zum Archiv
Ein Freund hat einmal zu mir gesagt, dass Begriffe vorgegeben seien, dass sie eine historische Dimension hätten. Dem würde ich vorbehaltlos zustimmen. Jedoch, jedem historischen Begriff wohnt eben auch die Möglichkeit inne, sich in seiner Bedeutung zu verändern, denn eine der herausragenden Eigenschaften von Geschichte ist ja, dass sie nicht festgeschrieben ist, in der Weise, dass man sagen könnte: So war es. Man kann lediglich sagen: So könnte es gewesen sein. Selbst mit den ausgefeiltesten Methoden können wir über die Vergangenheit nur im Konjunktiv sprechen.
Das Einzige worüber wir in der Geschichtswissenschaft tatsächlich im Indikativ sprechen können, sind die Quellen. Wir können sagen: Dieser Text ist grammatisch so uns so aufgebaut. Sein Inhalt beschäftigt sich mit diesem oder jenem. Die Farbe der Vase ist rot. Aber die Art des Rotseins der Vase, das vom Sprecher festgehalten wird, ist bereits von seinen Erfahrungen geprägt. Noch schwieriger wird es, wenn wir einen Text, eine Vase, ein Stück Holz, ein Notenblatt, ein Musikinstrument in den Kontext ihrer oder seiner Zeit einbetten, denn meist bleibt der Kontext bruchstückhaft und so auch unser Wissen über die Vergangenheit. Und je weiter eine Geschichte im Gestern zu liegen kommt, desto schemenhafter werden ihre Zeichen.
Deshalb haben mich die wissenschaftlichen Anteile der Geschichte nie so sehr interessiert wie ihre literarischen Möglichkeiten, denn in der wissenschaftlichen Erforschung der Vergangenheit liegt wenig utopischer Gehalt, während die Literatur sich bei genauerem Hinsehen als ein mit Utopien prall gefüllter, beinahe magischer Beutel entpuppt.
[Zum Archiv 20.2303] | [Zum Archiv 20.2304] |