20.220.326:1.625 Zum Archiv

Der Countdown musste abgebrochen werden, denn ein Kranksein forderte meinem Körper Höchstleistungen ab, trieb mich nach kurzen Aufenthalten in Küche, Bad und dem Ort, wo selbst der Herrgott nur mit Papier hingeht, zurück ins Bett. So vebrachte ich das Überschreiten der Schwelle unter der Bettdecke, siech und kraftlos, beinahe als Vorgeschmack auf das, was kommen mag, nach diesem letzten Jahrzehnt, das in meinem Leben von Bedeutung gewesen sein wird.

Doch ein Gutes hat das Kranksein, man hat Zeit und ordnet sich, manchmal setzt man Prioritäten neu. Und so habe ich begonnen, einen ersten Versuch des Erinnerns zu unternehmen und begann meinen neuen Text mit den Worten: Das Sterben beginnt immer mit einem unscheinbaren Tod. Keine Ahnung, was mich zu diesem Satz verführte, der so schwierig scheint und zugleich wie eine nichtssagende Worthülse in mir nachklingt.

Wie kann ein Sterben mit einem Tod beginnen, dachte ich und erinnerte mich an die vielen, die vor mir gegangen sind, deren Tod eine Selbstverständlichkeit war, erwartet und deshalb unscheinbar. Unscheinbar, weil ich ich ja bei keinem dieser Tode eine Rolle spielte, die mir zumeist in Telefonaten kund getan wurden und erst auf den Begräbnissen in mein Bewusstsein traten, wenn die Toten längst in die Erde gebettet waren, zur ewigen Ruhe, wie man so schön sagt.

Und auch mein Tod wird ein unscheibarer sein, dem ein Sterben vorausgegangen sein wird, ein Aussickern aus der Zeit, ein Leben, aus dessen Mitte man am Ende nicht gerissen wird, so wie das berühmte Band nicht reißt, das den Menschen angeblich im Leben hält, sondern lediglich von zu oftem Gebrauch brüchig geworden sein wird, spröde, morsch und mürbe und fasrig sich auflöst in den Jahren, in denen es immer weniger Zukunft gibt, aber dafür immer mehr Gewesenes und die Gegenwart nur noch dazu genutzt wird, über Gewesenes zu sinieren, statt auf Kommendes zu hoffen.


20.220.315:1.537 Zum Archiv

Erinnern, das sagen die Menschen so einfach vor sich hin, wenn sie sich erinnern. Doch sich erinnern, ist immer eine Täuschung, denn man erinnert sich immer nur bruchstückhat, interpretiert das Gewesene. Und kommt immer zu falschen Ergebnissen. Immer. Vieleicht kann man sich noch am klarsten an die Welt erinnern, ihren Zustand, an den Krieg, der als einziger - neben der Natur - Kontinuität in meinem Leben bewies. Auch wenn er mich nie physisch heimgesucht hat, so war er doch ein stetiger Begleiter, der in meiner Seele haust wie ein Bär, der Winterschlaf hält und ab und an erwacht, um mich in den düsteren Abenden zu ermahnen: Es ist Krieg! Es ist Krieg! Der Friede ist immer geschieden!


20.220.314:1.735 Zum Archiv

Sich erinnern, am siebten Tag. Sieben Tage noch, in dieser Zeit erschaffen andere Welten, erschaffen Himmel und Erde und alles Getier und in sieben Tagen verwüsten Armeen weite Landstriche einer einst blühenden Nation.

Ich schrieb vor zwei Tagen, dass es vielleicht Zeit wäre, zurückzublicken. Einen Blick auf das Gewesene zu werfen, auf mein Leben als Boomer, auf das, was mich vermeintlich zu dem gemacht habe, was ich an der Wende zum Ende geworden bin. Doch worüber schreiben, wenn einen die Erinnerung trügt? Über das Persönliche, das Zeitgenössische, das Historische?

Über den Winter könnte ich schreiben, der früh in mein Herz Wunden geschlagen hat. Über den Frühling der mich jedes Jahr aufs Neue gerettet hat. Über den Sommer, die einzige Jahreszeit, in der Leben überhaupt möglich war und schließlich den Herbst, als die Krähen in mir nisteten, die sich zwischen den Weinreben und in den Wäldern meiner Kindheit herumtrieben, mit ihrem Flug über unser Haus die frühen, kälteren Nächte anzeigten.


20.220.313:1.441 Zum Archiv

Neun Tage und der Frühling wirft seine Schatten voraus. Als einer, der den Sommer mehr liebt als die kalten schneereichen Tage, ist der Tag, an dem mein Leben begann, eine Wohltat - der erste Frühlingstag. Ich habe es immer als Zeichen gesehen, dass ich in den Tag hineingeboren wurde, zur Welt hinzugefügt wurde, an dem das Leben neu erwacht, nach einem der längsten und härtesten Winter des zwanzigsten Jahrhunderts. Vielleicht rührt daher meine Sehnsucht nach der Sonne, nach dem Meer, dem Süden.


20.220.312:1.441 Zum Archiv

Der Countdown läuft. Noch zehn Tage bis ich in mein letztes Jahrzehnt eintreten werde, das in meinem Leben am Ende von Bedeutung gewesen sein wird. Das siebte Jahrzehnt als die Summe des dritten und des vierten. Also der Jahre zwischen dem zwanzigsten und dem dreißigsten Geburtstag auf der einen und dem dreißigsten und vierzigsten auf der anderen Seite. Die vitalsten Jahre im Leben eines Menschen. In gewisser Weise könnte man sagen das siebte Jahrzehnt ist der Beginn des Abschied von diesen vitalen Jahren, in denen nicht mehr alles möglich war und dennoch viele Wege offen standen.

Also zehn Tage noch bis die Schwelle überschritten ist, über die ich in jenes Alter eintrete, von dem Curd Jürgens einst sang sechzig Jahre und kein bisschen weise und das Jahrzehnt von dem Udo Jürgens behauptete, dass in seiner Mitte das Leben erst so richtig losginge, denn mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an. Beide Text zeigen nur, dass man die Möglichkeit, die das Alter mit sich bringt, überschätzt.

Vielleicht aber wäre es durchaus angebracht, zurückzublicken, innezuhalten, Abschied zu nehmen, von dem, was man so schwer loslassen kann. Von dem, was man das Eigene nennt, von den Eigenheiten, die man in das Alter mitnimmt, hegt und pflegt, statt sie radikal über die Reeling der eigenen Geschichte zu werfen. Vielleicht ist es Zeit sich zurückzuziehen und Ruhe zu geben, die Welt nicht mehr allzusehr mit sich selbst zu belästigen, in den wohlverdienten Ruhestand zu treten. Die Welt sich selbst zu überlassen und wenn sie denn doch einmal auf Besuch kommt, mit freundlichen Worten ohne Hass und ohne Reue zu empfangen.


20.220.305:0.903 Zum Archiv

Ein neuer Kanzler!, rufen die Menschen.
Das Leben geht weiter, murmle ich.


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