20.220.222:0.856 Zum Archiv

Mein Naturempfinden ist einem Fluchtverhalten geschuldet. Schon in frühester Kindheit bin ich vor der Bestie Mensch, seinen zivilisatorischen Errungenschaften, der Familie, der Disziplin und dem Pragmatismus meiner Mutter geflohen, die selbst aus dem Schoß des Protestantismus und der kleinbürgerlichen Moral der Faschist*innen hervorgekrochen war, um, sobald sie in die Welt eintrat, zu meinem katholischen und sozialistischen Vater zu desertieren und sie hat sich in ihn eingeschrieben, wie sie sich in mich und meine Geschwister eingeschrieben hat.

Wie sehr meine Mutter selbst mit der Natur verbunden war, erfuhr ich durch ihre Bestattung. Ihre Urne liegt seit einigen Wochen gebettet in warme Erde, am Fuße eines Baumes, der zu ihren Ehren und aus ihrer Asche sich fortan nährt, auf einem Friedhof am Rande zur Welt, zu ihrer Welt, aus der ich geboren wurde. Einst. In grauer Vorzeit.


20.220.221:0.810 Zum Archiv

Ein deutscher Sender titelt: Brasiliens zweite Pandemie. Gemeint ist der Hunger, die Not und das Elend in den Favelas. Doch Hunger ist keine Pandemie, ist nicht ansteckend. Not keine Krankheit, sondern eine Folge der kapitalistischen Ausbeutung.

Wer solches titelt ist nicht nur ein Agent des Krieges der Paläste gegen die Hütten, sondern treibt den Glauben voran, dass das Elend in der Welt unvermeidbar sei, eine göttliche Vorsehung, ein Virus, der durch die Welt rast und alles hinwegrafft, was er befällt und infiziert.

Auch psychische Instabilität, Depressionen, Verzweiflung, Mord und Totschlag sind nichts weiter als Folgen eines Systems, das die Menschen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zerstört. Wie hat es Willy Lohman einst formuliert im Tod eines Handlunsgreisenden von Arthur Miller: Der Mensch ist kein Müll! Doch in weiten Teilen der Welt ist er genau das, weil er nicht nur wie Müll behandelt wird, sondern gezwungen ist auf den Müllhalden der kapitalen Welt zu leben, sich in ihnen einzuwühlen, darin zu nisten und zu hausen. Ausgesetzt, abgegrenzt, ausgestoßen.


20.220.219:1.116 Zum Archiv

Ich kannte einmal eine Lehrerin, die sprach von Schularbeitskorrekturen wie von einer heiligen Handlung, mit dieser alliterarischen Formulierung wollte sie ihre Tätigkeit erhöhen und sich selbst womöglich eine Bedeutung geben, die ihrer sinnlosen Existenz ein Stück Sinnhaftigkeit einhauchen sollte. Doch Schularbeiten sind, was sie sind, Arbeiten, die man in der Schule erledigt, in denen man nachweist, Gelerntes reproduzieren und anwenden zu können.

Weder ist ihr Verfassen noch ihre Korrektur eine heilige Pflicht oder ein gesegnetes Tun, sondern eine lästige Notwendigkeit, um sich eines Tages die Ehre der Reife auf die Fahnen heften zu können, um vor dem gerechten und strafenden Auge des Lehrkörpers bestanden zu haben, frei zu sein, entlassen in die Welt außerhalb der Schule, aus der Strafkolonie abzusegeln, zurück in jene Länder, in denen die Scheinheiligkeit der Gerechten einem nicht mehr im Gewand einer moralischen Überlegenheit entgegentritt, sondern in einer Form, die Marx bereits mit den Adjektiven nackt, bloß, dürr und hässlich belegte.


20.220.218:1.934 Zum Archiv

Vor Kafka hatte sich schon ein anderer aufgemacht, um voranzuschreiten, nämlich Lenz, jener Mann, der bei Büchner aufbricht, durch's Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Und in dieser Tonart geht es weiter: [U]nd dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.

In jeder Zeile kann man die Natur schmecken, riechen, fühlen, sie umgibt die handelnden Personen und man tritt ein in ein besonderes Reich, eines, das nicht bloße Kulisse ist. Die Natur ist hier noch nicht vollständig besiegt, sie ist gefährlich, nicht ein Freund, bedroht von der Technik, die sie ausreißt, an der Wurzel, sondern Feindesland. Sie ist naßkalt, der Nebel verschlingt die Formen.

Bei Büchner ist die Natur nicht der Ort, der den Raum sichtbar macht, wie bei Kafka, sondern sie ist noch intakt, eine Geographie, die den Menschen verortet, ein dystopischer Ort, in dem sich das Schicksal des Menschen erfüllt, die Bestie Mensch heimisch ist.


20.220.216:1.212 Zum Archiv

In vielerlei Hinsicht ist Franz Kafka ein moderner Autor, ein zeitloser, der heute gültig ist wie zu seiner Zeit, vielleicht gültiger, weil unsere Zeit mehr als seine Zeit in technokratischen und kapitalistischen Bürokratien verfasst ist. Und Ausdruck findet sein modernes Denken in der Tatsache, dass die Natur nichts weiter ist als ein Schleier, der verdeckt, was sich in der Welt verbirgt, wie in den ersten Sätzen des Romans deutlich wird: Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen. Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.

Anders als Goethe, der sich noch als Teil der Natur betrachtet, in ihr einmontiert ist, der im Werther sein Heil und seinen Untergang findet, begreift Kafka die Natur als Kulisse, war er sich der menschlichen Tragödie bewusst, einer Welt ohne Hoffnung und Vergebung, eine Welt die in tiefer Finsternis verborgen liegt.

Und dann ist da noch Bertolt Brecht mit seinem Gedicht Rauch, in dem er die Natur durch ihre Anwesenheit in ein Zeichen ihrer eigenen Irrelevanz verwandelt, in dem er schreibt, wenn kein Rauch wäre, wie trostlos wären dann Baum und See.

Und dann noch Hermann Hesse und sein Nebel, in dem es heißt: Seltsam im Nebel zu wandern, keiner sieht den anderen. Hier ist die Natur nicht nur Zeichen, nicht nur Kulisse, kein Sehnsuchtsort, sondern die Naturerscheinung verhindert jede Kommunikation, jede Beziehung der Menschen zueinander. Während bei Kafka der Nebel als Schleier die Wahrheit verbirgt, ist die Welt bei Hesse noch aussichtsloser, denn als sich bei Kafka die Nebel lüften, wird die Welt in all seinen Schrecknissen sichtbar. Bei Hesse liegt das Schreckniss in der Unsichtbarkeit der Welt, bei Kafka in seiner Sichtbarkeit und bei Brecht in der Abwesenheit des Menschen in der Welt.

Günther Anders hätte an derartigen Gedankenspielen vielleicht ein wenig Freude gehabt.


20.220.214:1.650 Zum Archiv

Seine Frau war der Ort, an dem er lebte.
Und er war die Zeit, die sie umgab.


20.220.208:0.823 Zum Archiv

Sollte die Losung, die Rene Decartes einst ausgab, richtig sein, dann wäre der Logik von cogito ergo sum folgend, alles was wir denken können in der Realität verwirklichbar. Decartes Satz hat ja nicht nur Konsequenzen für das Individuum, das durch sein Denken Existenz erlangt, sondern auch für die Gesellschaft und ihre Entwicklungspotentiale. Cogito ergo sum spricht eindeutig dafür, Utopien zu entwickeln, denn können wir das Utopische denken, so können wir es auch Wirklichkeit werden lassen, nein, mehr noch, in Realität verwandeln und alle erträumte Welt aus ihrer traumhaften Erscheinung befreien und uns in ihr einleben und ausleben.


20.220.206:1.635 Zum Archiv

Das Wasser des Ozeans, ein sattes Meerblau, ein Türkis, darauf entbrannt, die in Weiß gekleideten, hereinbrechenden Wellen, ausufernd in einem glasklaren, durchsichtigen Rest, gegen den Strand schlagend, einsickernd in einen Sand, der sich hell und gelblich schimmernd vom Grün der Pinienwälder abhebt. Menschen in Bewegung, gleich bunten Papierfetzen, die im Wind tanzen, sich gegen das helle Blau des Himmels abheben, gleich den farbigen Wimpeln eines Drachen, der immer höher steigt und schließlich zu einem kleinen Punkt wird und kaum noch unterschieden werden kann von einem weit entfernt kreisenden Vogel, der nur durch eine Schnur, die den Horizont durchschneidet, mit dem Boden verbunden ist, ein Anhängsel seines Begleiters, dessen Beine wie Stelzen tief vergraben im Sand stecken, die Füße unsichtbar darunter verborgen. Die Augen gebannt gegen den Himmel gewandt. Und als Kulisse dient ein felsiges Grau der Klippen, Abrüche, Einschnitte, Erhöhungen, Gipfellinien, die sich hinausschieben ins Meer. Grenze und Windfang zugleich.


20.220.204:1.422 Zum Archiv

Ein wunderbarer Märztag. Die Ausgehungerten erforschen das Licht der Sonne und selbst die verlassensten Winkel füllen sich mit Sehnsucht, die aus Wäldern strömt. An Tagen wie diesen, in denen die guten Geister erwachen, versetzt das Kommende den letzten Schnee (der sich verflüssigt und den Boden nährt) in Angst und Schrecken und so verflüchtigt er sich aus den Wiesen und den Furchen der Äcker. Und es scheint, als wolle der Gesang der Vögel die Welt aus ihrem Winterschlaf erwecken.


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