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Von Kirschbäumen und Maschinen


Das Eugenie Kain eine brillante Autorin ist, darüber besteht für mich, seit ich den Erzählband "Schneckenkönig" gelesen habe, kein Zweifel. Leider sterben die besten unter uns immer als erste. Eugenie Kain, die bereits 2010 als eine der ersten unserer Generation an Krebs gestorben ist, hätte vielleicht geschafft, woran sich viele von uns abarbeiten, unserer Generation ein literarisches, erzählerisches Gesicht von Dauer zu geben. Ihr gelingt es, mit ihrer präzisen und wirklichkeitsnahen Sprache Atmosphären zu schaffen, in denen sich Leser und Leserinnen sogleich heimisch fühlen können, eintauchen können in die Geschichte. Und als ob ihr dies selbst bewusst gewesen wäre, sucht sie nach Möglichkeiten, dem Leser dieses abtauchen wieder zu entreissen, in dem sie ihn immer wieder aus den Geschichten herausholt, ihn konfrontiert mit Problemlagen, die jenseits dieser Geschichten liegen und die sich aus ihnen heraus entwickeln, aufdrängen und im Gedächtnis haften bleiben, weiterwirken und die Sicht des Lesers auf die Welt im besten Falle verändern.

Im ersten Text des Erzählbandes "Können Musen fliegen?" schreibt sie über das Leben einer Frau, die auf einem "Bunkerschiff" lebt, liebt und arbeitet. Doch das ist nicht der eigentliche Stoff, aus dem diese Erzählung gefertigt ist, denn schon zu Beginn sagt uns Eugenie Kain an, worum es gehen soll: "Eine Geschichte will geschrieben werden." (7) Und sie wird geschrieben, mit kurzen Sätzen und einer Liebe, die nicht gelingt und doch stattfindet. Doch bevor der Leser noch richtig erfassen kann, wer hier wen, bei welchem Donaukilometer zugrunde richtet, muss er sich mit den Schwierigkeiten der Autorin herumschlagen, die nach Präzision ringt, die sich klar werden muss, dass eine Geschichte einen Grundton braucht, der sie trägt: "Mir schwebt ein Grundton vor. Ein Grundton, der anschwillt und sich wieder zurücknimmt mit der Stimme der Donau und dem Wind, der aus den Bergen auf das Land fällt…" (10)

Eugenie Kain hat ihren Grundton gefunden, jede Erzählung in diesem Band hat einen eigenen, aber nie verliert sich dabei ihre ganz eigene Erzählweise, die mit einfachsten formalen Mitteln, große Dichte in ihren Bildern erzeugt und so Dichtung hervorbringt, denn nichts anderes bedeutet zu dichten, Verdichtungen der Realität hervorzubringen, einen Punkt zu finden, an dem sich das Leben kristallisieren kann. Damit schafft sie etwas, was vielen unserer Generation verwehrt bleibt, die Chronistin einer verlorengegangenen Welt zu werden.

In der Erzählung "Das Leben ein Fest" erzählt sie von einer Großmutter, die besessen ist von Kirschen, die im Garten des Zinshauses wachsen. Und wie im Erwachsenwerden der Protagonistin Haus um Haus verloren geht, so als würde sich im Großwerden, wie es damals noch genannt wurde, Stück für Stück ein Zauber verlieren. Wir Babyboomer haben die Verwandlung unserer Städte, die aus dem Krieg zerfasert und ausgefranst hervorgekrochen sind, in Wohndistrikte und Schlafsprengel erlebt. Wo wir einst Kirschen aus Nachbarsgärten gestohlen haben, stehen heute ausgedehnte Siedlungen, mit Kinderspielplätzen und Parkgaragen. Was wir heute Modernität nennen, war für uns nicht nur ein äußerlicher, sondern vor allem auch ein innerlicher Verlust und davon schreibt Eugenie Kain, die Tochter des Mannes, der den Weg zum Ödensee geschrieben hat, von dem sie einiges an Talent und Erzählfähigkeit geerbt hat. Es ist nicht leicht, die Tochter von jemandem zu sein, schon gar nicht von einem Schriftsteller, denn immer drängt sich ein Vergleich auf, doch sie kommt weg vom Vater, findet ihren eigenen Weg, der sie nicht in das Experiment führt, sondern in die Erzählkunst, denn das hier Leben in Wirklichkeit verwandelt wird, was ich als ureigenste Aufgabe der Literatur betrachte, zeigt spätestens der Satz: "Das Kind glaubte den Atem des Hauses als strengen, modrigen Geruch wahrzunehmen." (25)

Zwischendurch hat mich Eugenie Kain aber auch irritiert, als sie von einem Satz zum anderen plötzlich politisch, didaktisch, beinahe pädagogisch wird, sie beschreibt, was real gewesen ist und damit bricht sie mit dem Willen zu erzählen, und hält mir eine Geschichtsstunde, in der sie auch ihren Sprachgebrauch ändert. Plötzlich ist von "Arbeitertugenden" die Rede und vom "absolutistischen Staat" und "sozialer Disziplinierung". Warum schleudert sie mich heraus aus der wohligen Wärme ihrer Großmuttererzählung, konfrontiert mich mit Zahlen und Fakten, der kalten, nackten Realität? Ist das ein gewollter Bruch? Will sie die noch nachwirkende Nestwärme des Satzes: "Das alte Leben geht in neuen Kulissen weiter", für politische Agitation nutzen, um uns Leser darüber zu informieren, wie es wirklich gewesen war? Ich bin mir nicht sicher über den Zweck, festhalten kann ich nur dass ihre Literatur dort am realsten ist, wo sie die Realität als Wirklichkeit abbildet, dort wo dies gelingt, entwickelt Literatur ihre größte Stärke, und schafft es, uns mit unserer Vergangenheit und manchmal auch mit unserer Zukunft zu synchronisieren. Eugenie Kain aber schreibt hier zwei Geschichten in einer. Die eine, ist eine melancholische Erinnerungsgeschichte an eine Großmutter, an die gute, alte Zeit der Kindheit, wo ein Leser schnell vergessen hat, dass es keine gute, alte Zeit gab, zu keiner Zeit, dass sie immer erst in der Erinnerung entsteht, in einer kollektiven Rückkehr an einen Ort, der nie existiert hat. Schreiben heißt ja auch immer verarbeiten. Und dann protokolliert sie die Geschichte der Gegenwart, den Verlust dieser Vergangenheit, holt damit alles wieder ein, das Gute und das Schlechte und endet in einem hoffnungslosen Bild: "Ungeachtet des Gestanks wird serviert und konsumiert und kassiert und bezahlt:. 'C‘est la vie', steht über dem Schlachthofeingang". (30)

Und schon in der nächsten Erzählung löst sie ihr davor gegebenes Versprechen wieder ein, da schreibt sie über die Arbeiter "Im roten Klang", die sich als schwarze Vögel im Kampf Spitznamen erwirtschaften, die an ihnen haften bleiben, selbst als die heroischen Zeiten längst vorbeigegangen sind. Da wird aus dem kalten Bild der sozialen Disziplinierung plötzlich das wirkliche Bild einer Mondlandschaft: "Neue Landschaften hinter dem Zaun, Ziegelsteppen, Schienenberge, Baggertümpel. Land im Übergang. Aufbrechendes Land. Aufgebrochenes Land. Auf dem Stadtplan Frachtenbahnhof. Im Entwicklungsplan Wohnviertel. Im Vorbeigehen Brache." (31) Menschen sind sogar in lebendigen Vöglen bei Eugnie Kain noch menschlich, selbst bei allem Leid, das sie erfahren und durchlebt haben, wollen sie noch fliegen und sich von "Protuberanzen […] in die Unendlichkeit der blauen Nacht" hineintragen lassen. Und sie verspricht: "Dort finden wir den roten Klang." (40)

Für mich ist dieser rote Klang der Klang der Freiheit, ob sie nun sozialistisch, feministisch oder anarchistisch sein mag, das spielt keine Rolle, denn in ihm schwingt die Kraft der Utopie mit: "Sie schauen und horchen und reden und reden und horchen und spüren, wie der rote Klang summend, satt und leuchtend den Raum erfüllt." (40) Eugenie Kain schafft es, die Losung von Ingeborg Bachmann, die sie im Geburtsjahr der Autorin 1960 in den Frankfurter Vorlesungen ausgegeben hat, mit Leben zu erfüllen: "So ist die Literatur, obwohl und sogar weil sie immer ein Sammelsurium von Vergangenem und Vorgefundenem ist, immer das Erhoffte, das Erwünschte, das wir ausstatten aus dem Vorrat nach unserem Verlangen – so ist sie ein nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten Grenzen." Eugenie Kain schöpft aus der Vergangenheit und verweist uns damit in eine mögliche Zukunft, ohne uns aber ein konkretes Versprechen zu geben.

In der Erzählung "Schneckenkönig", der dem ganzen Buch seinen Namen gab, kann ich dann auch den Schlüsselsatz finden, der mich mit der Autorin vereint, in einer Generation, obwohl wir in unserem Schreiben weit auseinanderliegen. Der Satz ist auf den ersten Blick unspektakulär und klingt beinahe antiquiert und passt doch so gut in das, was wir als Generation erfahren mussten: "Am Tag, als der der Dampfbagger kam, habe ich meinen Frieden verloren." Eindrucksvoll schafft es Eugenie Kain auszudrücken, dass für meine Generation, für die Vielen, eben der Krieg nicht im Bombenhagel oder im Luftschutzkeller stattfand, zwischen Trümmerbergen und Maschinengewehrsalven, sondern in der gesellschaftlichen Modernisierung, die die idyllischen Tage der friedlichen Kindheit in einen Maschinenpark verwandelten. Die heutige Allgegenwärtigkeit der Maschinen: Kaffemaschine, Fernseher, Bankomatkasse, Nähmaschine, Waschmaschine, Geschirrspüler, Computer, Drucker, Autos, Eisenbahnen, Flugzeuge, Raumkapseln ist für uns keine Tragödie mehr. Wir haben uns an sie gewöhnt. Doch in unserer Kindheit gab es diese Fülle noch nicht. Da war eine Lokomotive, die am Bahndamm entlangraste ein seltenes Vergnügen und ein Passagierflugzeug, das über das Dach des Gemeindebaus aufstieg eine Sensation. Doch mit jeder Maschine, die in unser Leben vordrang, von unserem Leben Besitz ergriff, und das meine ich hier nicht als Metapher, ging ein Stück Frieden verloren. Und dieser Verlust ließ sich nur in Obsessionen verkraften, in einer Art Rückzug, den Eugenie Kain wunderbar auf den Punkt bringt, wenn sie den verlorenen Schneckenkönig, der zum ersten Opfer in diesem Krieg der Maschinen gegen die Menschen wurde, zum Mittelpunkt ihrer Erzählung macht. Doch das half nichts, denn der Schneckenkönig ist ein Außenseiter und seine Welt fällt irgendwann in Scherben und am Ende zerbricht alles, wie es halt ist in Zeiten, da Krieg herrscht und hätte "jemand in [seine] rotbraunen Augen geschaut, er hätte darin das Elend der Welt erkennen können". (60)

Noch heute weigern wir uns, in diese Augen zu blicken und so können wir das Elend der Welt nur ahnen, aber nicht beschreiben, so wie es Eugenie Kain in ihrem Erzählband getan hat.

[Eugenie Kain: Schneckenkönig. Erzählungen. Salzburg [u.a.]: Otto Müller 2009.]

eingestellt am: 17.5.2017 | zuletzt aktualisiert: 17.5.2017
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