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[chronos] blättern [Unbrauchbar II]
Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren I
An einem Sonntag


Auch wenn es wie ein Widerspruch wirkt, in Zeiten wie diesen, da alles aus den Fugen zu geraten scheint und die Aufgeregtheit alle Medien durchdringt, als wär sie ein Geschwür, das sich bis in die letzte Zelle des Wirtskörpers ausbreitet, so kann doch festgehalten werden, für die Unbrauchbaren, Nutzlosen, die Bedeutungslosen ändert sich nichts. Sie sterben nur früher und schneller als in normalen Zeiten, als das Zahlenwerk der Unmenschlichkeit noch reibungslos lief.

Schön ist zu sehen, in Zeiten wie diesen, das alles, was uns wie ein Naturgesetz erschien, plötzlich ins Ungewisse gefallen ist, ins Ungefähre. Von einer Woche zur anderen kann Geld verteilt werden, von dem es bisher hieß, es sei knapp. Von einem Tag zum anderen kann der Staat auf die meisten von uns verzichten, sind wir alle nicht einmal mehr Humankapital und es bricht ohne und auch keine Hungersnot aus. Wir Menschen fallen als Konsumenten weitgehend aus und dennoch bricht kein Chaos aus. Von einer Stunde zur anderen erkennen wir, dass uns nicht die Börsen und die Banken das Leben retten, sondern Krankenschwestern, Ärzte und Rettungssanitäter.

Von einem Tag auf den anderen erkennen wir, dass ein Leben in Isolation auch seine Vorteile hat, wenn man nur darauf achtet, den anderen nicht aus Angst, Wut und Zorn zu erschlagen, wie wir dies schon unter normalen Umständen tun; wenn man darauf achtet, sich nicht in Passivität zu flüchten, in Ungeduld zu üben, aus Angst in seinen vier Wänden verkriecht, sondern den Tag nützt, wie schon Horaz sagte: Carpe diem.

Isolation regt zum Denken an. Zum tiefgründigen Nachdenken. Nicht über die Sinnhaftigkeit der Existenz, die stand vor einem Monat nicht zur Debatte und tut es heute nicht. Sinn ist nicht zu haben, in einer irrelevanten Welt. Aber wir können die Zeit nutzen und uns darüber austauschen, wie wir leben wollen. Endlich ist Zeit für ein wenig Utopie. Ein wenig Zeit darüber nachzudenken, wohin wir uns als Gesellschaft entwickeln wollen.

Überall kann ich sie nun hören und lesen die Prophezeiungen, dass die Welt nach dieser Krise nicht mehr die gleiche sein wird. Es gibt kein zurück mehr in eine Zeit vor der Pandemie. Ja, das stimmt in seiner allgemeinen Form, denn nie gibt es eine Rückkehr in eine Zeit vor der Gegegnwart. Immer ändert sich das Leben. Auch wenn uns alles gleichförmig erscheint, so ist doch jeder Tag, jede Stunde, jede Minute ein Prozess der Veränderung. Auch diese Aussage in ihrer allgemeinen Form natürlich sinnentleert. In diesen sinnentleerten Formeln suchen wir unser Heil. Doch niemand weiß, was kommen wird, vielleicht ein von sozialen Turbomotoren angetriebener Kapitalismus, der in einem verzweifelten Kampf ums Überleben, alle Kräfte mobilisiert, um verlorenes Terrain aufzuholen. Vielleicht aber eine vollkommen andere Form der sozialen Marktwirtschaft, in der die Gemeinwohlökonomie eine politische Dynamik entwickelt, die weite Teile der Bevölkerung absichert und grundsichert.

Das einzige, was wirklich gewiss ist, in diesen Tagen, ist das Sterben der Unbrauchbaren, um deren Leben wir kämpfen, als wäre es unsere Bürgerpflicht. Und ja, jedes Leben, das verlischt, ist ein verlorenes. Und je näher uns dieses Leben sozial stand, desto tragischer ist das Verlöschen seines Lichtes. Aber wenn auch nur ein Funken Ehrlichkeit in uns ist, dann müssen wir doch auch festhalten, dass uns das tägliche Sterben vor dem Tod des Patienten "0" doch auch nicht besonders berührt hat. Wir sind unseren Geschäften nachgegangen, als gäbe es kein Morgen und haben die Colateralschäden des Kapitalismus hingenommen, als wäre sie ein Teil der Naturgesetzlichkeit unseres aus dem Ruder gelaufenen Witschaftswachstums.

Gehen wir doch in uns und fragen wir hat uns denn vor dem ersten Toten dieser "Krise" gekümmert, ob in Italien Menschen an der Grippe sterben, ob Kinder in Afrika immer noch verhungern oder sich in der Wohnung nebenan jemand erhängt hat. Und wenn ich von diesem "Wir" spreche, dann will ich mich davon gar nicht ausnehmen. Was unterscheidet die Zeit vor der Krise von der Zeit heute. Einem Sonntag im März, an dem der Winter seinen Rückzug ankündigt und der kommende Sommer seine Schatten vorauswirft.

Heute kann es jeden von uns treffen. Die Krise erschüttert die Lebensweise der Menschen, die sich noch den Glauben an einen Funken ihrer Bedeutung bewahrt hatten, weil sie Arbeit hatten, Beziehungen, Wichtigkeiten und Ehrenämter. Heute erkennen wir, es geht auch ohne uns. Zumindest ohne die meisten von uns.

Mehr noch. Je schneller wir uns aus dem öffentlichen Leben zurückziehen oder im Spital den Löffel abgeben, desto früher wird die Krise zu Ende sein und die Intensivbetten werden für andere frei. Unsere Bedeutung besteht plötzlich in unserem Stillhalten, wir leisten einen Nutzen durch unseren Rückzug. Eine Sache, die für meine Generation nichts besonderes darstellt.

Wie hat ein Freund einmal formuliert: Mit uns kommt keine neue Zeit, mit uns geht keine neue Zeit, mit oder ohne uns, die Zeit vergeht. Diese grundlegende Erfahrung meines Lebens teile ich nun mit Millionen anderen auf dieser Welt. Nämlich das unsere Unbrauchbarkeit nun endlich wahrgenommen wird. Zu ihren eigentlichen Sinn kommt. In die Mitte der Gesellschaft getreten ist. Endlich hat meine Existenz ihren angemessenen und angestammten Platz in der Gesellschaft gefunden, in der meine Unbrauchbarkeit plötzlich einen hohen Wert besitzt. Plötzlich ist es nützlich, nicht von Nutzen zu sein. Unbrauchbar herumzulungern und dafür gelobt und geschätzt zu werden. Endlich hat auch mein Leben zu seinem eigentlichen Sinn gefunden.
[chronos] blättern [Unbrauchbar II]

eingestellt: 29.3.2020 | zuletzt aktualisiert: 24.6.2022
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