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Trans World Railway oder
Die EU und die Totalität des freien Warenverkehrs [Essay 1994]



[Anmerkung: Dieser Text entstand am Ende meines Geschichtsstudiums und immer wenn ich in den letzten Jahren Berichte hörte über die Wiedererrichtung der Seidenstraße musste ich an den folgenden Artikel denken. Schon damals hat mich der freie Warenverkehr fasziniert und seine Folgen. Der Text sollte als ein historischer Text gelesen werden, als ein Text, der etwas über die Entwicklung meines Denkens und meiner Standpunkte aussagt. Weiters ist festzuhalten, dass der Artikel nicht bearbeitet wurde. Erschienen ist er ein einer Sondernummer der Studentenzeitschrift Geschichte Info, Sondernummer Juni 1994.]


Eine ganz einfache Fragestellung stand am Beginn meiner Auseinandersetzung mit dem früheren EWG, der früheren EG und jetzigen EU: Was hat ein derartig riesiger, gemeinsamer europäischer Nationalstaat für einen Sinn?
Demokratisierung? Vielleicht.

Doch was hätten wir von einem europäischen Nationalstaat mit demokratischem Parlamentarismus nach Vorbild der USA, Englands oder Frankreichs?
Sicherheit? Vielleicht.

Aber was hätten wir von einem sicheren europäischen Nationalstaat, der in gemeinsamer Innen- und Außenpolitik alles verfolgt, was nicht in das Konzept der modernen Wohlfahrts-Konsum-Demokratie paßt, in dem sich Solidarität lediglich auf die kaufkräftigen Menschen beschränkt, andere irgendwie mitgeschleppt und die die nicht mithalten können, an den Grenzen seiner militärischen Hinterhöfe zurückgewiesen werden?
Wohlstand? Vielleicht.

Aber was kann uns dieser Wohlstand bedeuten, wenn wir ihn mit der fortschreitenden Zerstörung unserer Umwelt bezahlen müssen, wenn Ökonomie zur einzigen Strategie erkoren wird, um die Demokratie zu retten?
Freiheit? Vielleicht.

Und damit bin ich zum Kern der Bedeutung der europäischen Einigung im Zeichen von Maastricht vorgestoßen. Freiheit ist das Zauberwort. Freiheit des Waren- und Personenverkehrs, Freiheit der BürgerInnen, der Justiz, der Polizei, der Gewerkschaften, und aller gesellschaftlichen Gruppierungen, die es sich bequem gemacht haben im modernen Nationalstaat. Ein wahres Schlaraffenland wird uns versprochen: Expansion, Wohlstand und Konsum in fast unvorstellbaren Dimensionen. Und das ist der Schlüssel zum Phänomen Europische Union, denn sie ist nur ein Schritt auf dem Weg zur Trans World Railway und damit zur Totalität des freien Warenverkehrs, zu einer neuen Weltordnung, die den Konsum weltweit demokratisch organisieren wird.

Sehe ich mir die Weltkarte an, so gibt es die Möglichkeit ein weltumspannendes Netz von Eisenbahnen zu bauen, die einen reibungslosen Transport von Waren aller Art zwischen allen Kontinenten, mit Ausnahme von Australien ermöglichen könnte. Was sind die Vorraussetzungen für eine derartige, transnationale Eisenbahnlinie: Vier, fünf große einheitlich und demokratisch organisierte Staatengemeinschaften, in denen ein Maximum an Freiheit für die Wirtschaft und Anpassungsfähigkeit der Bevölkerung an die Bedürfnisse der kapitalistischen Konsumgesellschaft ermöglicht wird.
Ein Horrorszenarium?
Keineswegs!

Was kann es denn schöneres geben, als daß es gemeinsame nord- und südamerikanische, gemeinsame euroasische, gemeinsame südostasischaustralische und afrikanische Märkte gibt, die ihren Warenverkehr mit einem Maximum an Durchläßigkeit zu den jeweils anderen KonsumentInnen bringen können, indem sie eine durch diese fünf großen Einheiten gebaute und koordinierte transnationale Eisenbahn- und Schiffahrtslinie benutzen. Kleinere Gesellschaften können ihre Schienennetze zusammenschließen, staatliche Gesellschaften privatisiert werden. Dies würde ein riesiges Infrastrukturprogramm in Gang setzen. Denken wir nur an den "Information-Highway", der den freien Warenverkehr, durch den weltweiten freien Datenverkehr ergänzen würde. Hindernisse wie Meerengen oder Fehlkonstruktionen des 19. Jahrhunderts müßten dazu zwar beseitigt werden, aber es wäre ja nicht das erste Mal, daß eine technische Errungeschaft das vorangegange Jahrhundert überhohlt. Panamakanal und Suezkanal würden zugeschüttet, sie hatten ja keinen Sinn mehr, wenn die Trans World Railway auf dem Landweg alles erledigen könnte. Die Beringstraße und einige Seeverbindungen zwischen großen Inselstaaten und dem Festland müßten untertunnelt werden. Ökoenergetische Systeme, wie Sonnen- und Windgeneratoren würden die notwendige Energie liefern, um die Trans World Railway zu betreiben.
Eine große Vision.

Es gibt allerdings eine Vorraussetzung dafür: die Auflösung nationaler zentralistischer Kleinregionen, die gegeneinander rivalisieren. Die neue Weltordnung, vorangetrieben durch die USA, die EU und stellvertretend für beide durch die UNO, leistet dafür bereits Vorarbeiten in der ganzen Welt. Es ist sicher eine gewisse Übergangszeit zu veranschlagen, in der die jetzt noch großen Einheiten wie China, Indien, oder auch die ehemalige Sowjetunion brauchen werden, um sich in kleiner Einheiten aufzuspalten, zu demokratisieren, zu stabilisieren und sich wieder zu einer größeren transnationalen Einheit zusammenzuschließen, um Märkte zu bilden, die an die bereits bestehenden Märkte angeschlossen werden können. In Südamerika sind derartige Dinge im Gange, denken wir nur an Nafta oder der gemeinsame Markt zwischen Argentinien und Brasilien, in der ehemaligen Sowjetunion sind solche Vorgänge ohnehin jeden Tag zu beobachten. Diese Prozesse werden vielleicht fünfzig, vielleicht hundert Jahre in Anspruch nehmen, aber sie werden zum erfolgreichsten Wirtschaftssystem führen, das die Menschen je zustande gebracht haben: Die Totalität des freien Warenverkehrs.

Profitorientierte, auf die Mehrwertproduktion ausgerichtete Wirtschaftssysteme werden nicht mehr notwendig sein, da der Konsum weltweit voranschreitet und alle Menschen Zugang haben. Notstandssitutionen werden durch Sozialprogramme aufgefangen. Die EU verspricht uns also nicht mehr und nicht weniger als die Freiheit arbeiten, kaufen und leben zu können, wo immer, wann immer und was immer wir wollen.
Konsum als Schlüssel zur Freiheit!

Die Trans World Railway wird diesen Fortschritt, dieses Versprechen, gleich den Eisenbahnen des 19. Jahrhunderts in alle Winkel dieser Welt tragen und alle Menschen mit dem Traum vom Wohlstand durch Konsum erfüllen.
Alle?

Vielleicht nicht alle. Natürlich wird es weiterhin ein paar Unentwegte geben, die sogenannten Nicht-KonsumentInnen, die Anti-DemokratInnen, die Technik-FeindInnen. Aber wer wird denen schon glauben? Wer glaubt ihnen denn jetzt? Und warum sollten die Menschen ihnen glauben? Was ist falsch an Wohlstand, an Konsum, an Freiheit und an Demokratie?
Nichts?

Ich würde meinen, es gibt da einen Grund, der mich abhält, an diese Vision des Glücks zu glauben. Die Totalität des freien Warenverkehrs, das Versprechen von Glückseligkeit durch die Demokratisierung des Konsums, die Vision einer ökologischen Verträglichkeit der Warenproduktion setzt einen allgemeinen Glauben an den Fortschritt der Freiheit durch die parlamentarische Demokratie voraus. Weltweite Demokratisierung bedeutet weltweite parlamentarische Demokratie und kein Freiraum mehr zwischen den supranationalen Märkten. Kein Freiraum mehr für Konsumverweigerung, kein Freiraum mehr für alternative Lebensformen, kein Freiraum mehr für Gegenutopien und kein Freiraum mehr für Widerstand.

Sicher wird es Freiräume geben!
Aber für wen?

Es werden Freiräume für KonsumentInnen, ProduzentInnen und HändlerInnen sein. Produktnischen erobern Märkte, Handelslobbys stützen politische Parteien, Bürgerinitiativen ökologisieren die Industrie, KonsumentInnenvereine politisieren die Wirtschaft, Arbeitslosenparteien sichern den Wohlstand der Arbeitslosen, Obdachlosenverbände sorgen für die Versorgung der Straßenkinder, -eltern und -großeltern. Aber wir werden mit dem Versprechen das durch die Trans World Railway in unsere Welt kommt, den Freiraum verlieren, gegen den Konsum aufzutreten, gegen den Handel zu rebellieren, gegen die ProduzentInnen Politik zu machen, weil das System zusammenbrechen würde, wenn die Konsumverweigerung Schule macht. Es wird ein Punkt in der Ausbreitung des demokratischen Konsums kommen, wo es kein zurück und kein nach vorne mehr geben wird.

Nach Fertigstellung der Trans World Railway, der Schaffung von supranationalen Märkten, der Errichtung der Konsumdiktatur gibt es keine Expansion mehr, die uns offen steht.
Oder doch nicht?

Was spricht gegen die Eroberung des Weltraums?
Nichts!

Ist also die logische Konsequenz der EU und der Trans World Railway der Aufbruch in eine intergalaktische Zukunft?
Vielleicht!

Stimmen wir für die EU, so stimmen wir für die Expansion der Demokratie, des Konsums, der Freiheit und der Weltraumforschung. Wer für die EU stimmt, gibt der Zukunft ohne Rückkehr eine Chance. Wer für die EU stimmt, gibt dem grenzenlosen Wohlstand für ArbeiterInnen, ProduzentInnen, KonsumentInnen, Arbeitslose und Obdachlose eine Chance. Wer für die EU stimmt, beweist Einsicht in die unumstößliche Tatsache, daß die Zukunft der Menschheit im intergalaktischen Raum liegt.

Wer für die EU stimmt, stimmt für die Eroberung des intergalaktischen Raumes und die Errichtung eines solaren Kolonialsystems, in dem sich die Freiheit des Konsums beinahe grenzenlos an die Grenzen des Universums ausdehnen kann.


eingestellt am: 2.1.2021 | zuletzt aktualisiert: 2.1.2021
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