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Offener Brief an die IG Autorinnen Autoren


(Der offene Brief ist eine maturarelevante Textsorte, die nur eine verschwindende Anzahl der Österreicher/innen in ausreichendem Ausmaß beherrscht. Die Zentralmatura wird dieses Problem beheben und hoffentlich zu einer Flut an offenen Briefen an Literaturgesellschaften, Bundesinstitute, Politiker/innen, Gemeinden usw. führen.)

Liebe beschlussfassende Mitglieder der Generalversammlung, lieber Gerhard!

Wie ich in der letzten Ausgabe der Autorensolidarität (1/2017) lesen konnte, ist die Autorenschaft in Österreich, zu der ich mich auch zähle, unzufrieden mit der Zentralmatura und dem Literaturunterricht im Unterrichtsfach Deutsch.

Die Generalversammlung stellt fest, dass Recherchen der IG Autorinnen Autoren ergeben hätten, dass nur eine verschwindend geringe Anzahl von Maturantinnen und Maturanten die anspruchsvolle Literaturoption gewählt hätten. Nun dieser Beobachtung kann ich aus meiner eigenen Erfahrung, da ich eben zwei Maturaklassen korrigiere, nur zustimmen. Doch wer wollte dies den Absolventinnen und Absolventen unserer Schulen vorwerfen? Schließlich werden sich die Schüler/innen nicht bewusst einem schwierigeren Thema aussetzen, wenn sie ein leichteres zur Verfügung haben. Und jemand, der behauptet, dass die Meinungsrede eine "schlichte" Textsorte sei, hat diese nicht begriffen, denn eine gute Rede, ist schwer zu halten und noch viel schwieriger zu schreiben. Daran scheitern manchmal selbst eloquente Autoren und Autorinnen, deren Beruf und Berufung im eigentlichen Kern die deutsche Sprache sein sollte. Und jeder der schon versucht hat, eine Rede zu schreiben oder zu halten, weiß von den Tücken und Schwierigkeiten, die in dieser "Textsorte" lauern.

Der Literaturunterricht in der Schule droht meines Erachtens nicht deshalb marginalisiert zu werden, weil es die Zentralmatura gibt, sondern weil die österreichische Literatur längst ihre gesellschaftliche Relevanz eingebüßt hat. Der Autor und sein Verhältnis zur Gesellschaft haben sich in Österreich in eine grausame Vorstadt-Biedermeierlichkeit verwandelt, die die literarische Gemeinde immer wieder gerne den anderen vorwirft, den "dumpfen", "faschistoiden" und "blödsinnig dahinvegetierenden" Durchschnittsösterreicher/inne/n. Abgesehen davon, warum sollten Jugendliche deutschsprachige Literatur lesen, wenn sie einen globalen Literaturmarkt vorfinden, auf dem es wesentlich gesellschaftsrelevantere Literatur zu kaufen gibt.

Ich denke, die Autorinnen und Autoren sollten nicht nur im Netz recherchieren, sondern in die Schulen gehen und sehen, was sich vor Ort abspielt. Das Maß, das hier angelegt wird, ist doch zumeist die AHS-Oberstufe, der Wissenstand der Söhne und Töchter aus gutem Hause, die Bürgerkinder aus der Mittelschicht, die Aufsteigerabkömmlinge, deren intellektuelles Niveau in Gefahr ist, wenn sie nicht mit Faust und Nibelungen und Musil und Brecht und Bachmann und Kafka gefüttert werden. Nun befinden sich viele Schülerinnen und Schüler aber auch in anderen höheren Schulen: HTL, HAK, HAS, Modeschlulen und ähnliches mehr. Hier haben wir es mittlerweile mit Schülerinnen und Schülern zu tun, die das Verb und die Präposition semantisch falsch gebrauchen, die textstrukturelle Defizite aufweisen, die es gar nicht möglich machen, einen ausgefeilten Diskurs über Literatur oder gesellschaftspolitische Inhalte zu führen.

Das führt mich zu folgender Feststellung, dass in dem Beschluss der Generalversammlung zu meinem Bedauern kein Wort dazu gesagt wird, wessen Interessen denn mit einem Deutschunterricht, den die Generalversammlung fordert, geschützt werden sollen. Doch nicht die jener Schülerinnen und Schüler, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen, aus Migrantenfamilien oder sozialen Aufsteigerfamilien. Meine Interessensvertretung sorgt sich "um den Verlust der Leserschaft für unsere Bücher". Es geht wie immer um wirtschaftliche Interessen, die bildungspolitische Debatte ist dabei nur das Vehikel, um diesen puren kapitalistischen Impuls zu verdecken. Den Autorinnen und Autoren geht es doch nicht um die Schüler/innen, die überlassen sie nur allzu gerne den Lehrer/innen.

Die Lehrer/innen sind gefordert, allemal, da stimme ich als Lehrer zu. Aber, was nicht sein kann, ist, dass wir unsere Schülerinnen und Schüler permanent geistig entmündigen, in allen Lebensbereichen und auf allen Schulstufen und dann von ihnen verlangen, dass sie sich für Literatur und philosophisch-politische Denkmodelle interessieren. Abgesehen davon, glaube ich nicht an den Mythos von desinteressierten, entpolitisierten und geldgierigen, konsumsüchtigen Schülerinnen und Schüler, denn in meinem Unterricht zeigen sich vollkommen andere Menschen. Dennoch gilt, wie auch zu meiner Schulzeit als bereits der Untergang des Abendlandes ausgerufen wurde, Schülerinnen und Schüler, die lesen und solche, die es unterlassen, gab es immer schon und wird es immer geben.

Abschließend möchte ich festhalten, dass die Diskussion wie immer zu kurz greift und ein echter Diskurs über gesellschaftliche Phänomene und Zusammenhänge leider auch in jener Organisation nicht mehr möglich ist, in der ich noch immer Mitglied bin. Vielleicht liegt das am mangelnden deutschsprachigen Literaturunterricht in den Schulen, die die beschlussfassenden Generalversammlungsmitglieder besucht haben. Lehrer/innen, Schüler/innen und Autor/inn/en leben nun mal in unterschiedlichen gesellschaftlichen Welten und diese begegnen sich nur allzu selten.

Daher liebe Generalversammlungs-Mitglieder und beschlussfassende Autorinnen und Autoren lasst mich noch eines festhalten: Autorinnen und Autoren galten im zwanzigsten Jahrhundert, vor allem an seinem Beginn, als die Speerspitze von sozialen Bewegungen und einer fortschrittlichen Avantgarde, auch und vor allem in Österreich, doch diese Zeiten sind im Nationalsozialismus und der Pensionsberechtigung der Achtundsechziger zugrunde gegangen. Die großen Kontroversen spielen sich anderswo ab. Wir sind zu geistigen Schrebergärtnerinnen und Schrebergärtner verkommen, die von den Schulen und Bildungseliten fordern, unsere Arbeit zu tun, aber es ist eben nicht die Aufgabe der Schulen die österreichischen Autorinnen und Autoren und ihre literarischen Produkte im Unterrichtsfach Deutsch vor der vollkommenen gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit zu bewahren.

Wer keine für Schülerinnen und Schüler relevanten Bücher schreibt, der wird auch nicht von ihnen gelesen, da kann der Lehrer pädagogisch und aufrecht sein, wie er will. Der Lehrer ist verantwortlich das kritische Denken zu fördern, den Wunsch sich Wissen anzueignen, in den Schülerinnen und Schülern die Neugier zu wecken, Angebote zu setzen, vor allem auch deutschsprachige, aber verordnen lässt sich das nicht.

Was ich mir zu guter Letzt noch wünsche, dass Lehrer und Lehrerinnen im Notfall auch gegen die Institution das lehren, was sie als Menschen für richtig erachten.

Mit lieben Grüßen
Raimund Bahr (Deutschlehrer, Autor, Verleger, Germanist)
St. Wolfgang, am 4.5.2017

P.S.: Ich erlaube mir, ebenfalls eine Forderung zu erheben: Wie wäre es, wenn alle Autorinnen und Autoren sich der fünfstündigen Mühsal einer Zentralmatura unterziehen würden und versuchten, die diesjährigen Aufgaben zu lösen. Ich würde mich bereit erklären, diese nach den neuen standardisierten Methoden zu beurteilen. Über die Ergebnisse können wir im Anschluss gerne diskutieren und auch über die Schwierigkeiten, die Autorinnen und Autoren dabei gehabt hätten, die Aufgabenpakete in fünf Stunden, unter dem Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit zu lösen, der die Matura heutzutage unterliegt.

eingestellt am: 17.5.2017 | zuletzt aktualisiert: 17.5.2017
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