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Mittwochs-Reflexion | 2025|24
Blick in den Hinterhof meiner Schulerfahrungen


Wenn ich in wenigen Jahren in Pension gegangen sein werde, habe ich mehr als dreißig Jahre im Bildungssystem verbracht. Und viele Jahre lang habe ich einen Blick in seine Hinterhöfe geworfen. Der erste Hinterhof war der Garten des Kindergartens, den ich besuchen durfte oder musste. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, ob ich gerne hingegangen bin. Der Vorteil: Ich habe dadurch wenig tragische oder deprimierende Erinnerungen. Meine Mutter denke ich, sagte, ich sei durchaus gerne hingegangen. Ob man in den sechziger Jahren aber bereits von einer Bildungseinrichtung sprechen konnte, wage ich zu bezweifeln. Wenige Bilder sind in mir abgelagert oder so verschüttet, dass ich sie nicht mehr aufrufen oder im Gerümpel meiner Dachkammer des Schreckens nur nicht mehr finden kann. Da ist ein langer Gang in dem Gebäude, der wahrscheinlich nicht so lang war, wie ich denke. Ein langer Gang, der mir heute wie ein Krankenhausgang erscheint, viel weiß, wenig bunter Wände. Und in den Räumen suchten mich zwei Essenschrecknisse heim, die mir bis heute geblieben sind: Risibisi und Milchreis. Der Hass auf diese beiden Speisen reicht bis in meine Kindergartentage zurück. Und der Hinterhof meiner ersten Bildungseinrichtung, die ich besuchen durfte, besteht aus einer mit Steinplatten belegten Terrasse, von der links und rechts Stufen in einen umzäunten Gartenbereich führen. Aufsichtspersonal sehe ich auf diesen Erinnerungspolaroids nicht, aber es war da, zumindest hoffe ich das, ansonsten müsste ich ja noch rückwirkend die Stadt Wien auf Vernachlässigung der Aufsichtspflicht verklagen. Links Sträucher, Wege sehe ich keine. Ein Baum. Ob darauf eine Schaukel hing, ich weiß es nicht. Da ist keine Erinnerung an irgendwelche Spiele, weder Gedankenspiele noch Gesellschaftsspiele und an das Schlafen zu Mittag erinnere ich mich wahrscheinlich nur, weil man mir gesagt hatte, dass das damals üblich war.

Und nach dieser Zeit im Garten der Kinder kam ich in die Volksschule. In eine, die auch die Kinder der besseren Leute besuchten. Die erste echte Bildungsanstalt. Ob ich mich darauf gefreut habe. Wie sich heute Kinder darauf freuen, kann ich nicht sagen. Auch daran besitze ich keine Erinnerung. Aber es gab zwei Hinterhöfe. Einer im linken Trakt der Schule. Ein unansehnlicher, grauer, von einer Betonmauer eingesäumter Hinterhof, auf dem sicher nie jemand gespielt hat, aber auf den ich immer blickte, wenn mir langweilig war und ich langweilte mich im Unterricht häufig. Ich denke nicht, dass ich hochbegabt war, wie das heute oft die Eltern behaupten, wenn sich die Kinder der Kleinbürger in den Klassenzimmern langweilen. Sofort vermutet man eine Unterforderung oder eben eine Hochbegabung. Vielleicht lag es in meinem Fall einfach daran, dass ich mich wie oft im Leben fühlte, als wäre ich am falschen Ort unter die falschen Menschen geraten. Es war eine Form der Heimatlosigkeit, die mich von Anfang an in meinem Leben heimgesucht hatte. Vielleicht ein psychologischer Geburtsdefekt. Zumindest dachte ich das später. Heute, nach eingehender Lektüre von Jean Paul Sartre und Günther Anders weiß ich es besser: Die Hölle sind immer die anderen. Und in der Schule eben die Lehrer und Lehrerinnen, die Mitschüler, denen man so schwer entkommen kann, weil man jeden Tag gezwungen ist, ihnen zu begegnen.

Vor allem im zweiten Hinterhof der Volksschule. Nicht weniger betoniert, aber dafür größer, ähnelte er einem Gefängnishof, der von den Delinquenten, die wir damals waren, in den Pausen genutzt werden durfte, nein, in meiner Erinnerung wurden wir gezwungen, ihn zu nutzen. Viel Geschrei, viel Gerenne, viel Gequatsche, an das ich mich im Einzelnen nicht mehr erinnere. Aber wer sich unauslöschlich in mein Gehirn gebrannt hat, ist meine Volksschullehrerin, die strenge Zofe in der Kammer des Schreckens, wie ich das damalige Klassenzimmer heute noch gerne nenne. Eine Dompteuse und absolute Herrscherin über eine Knabenklasse, weil die Mädchen getrennt von uns gehalten wurden. Eine Frau, die das Geschäft der Demütigung verstand wie keine andere, eine Schlägerin von des Bildungsministers Gnaden, die, wenn sie vielleicht mehr Mut oder Sex-Appeal gehabt hätte, in der Erotikbranche gut aufgehoben gewesen wäre.

Vier lange Jahre meiner Lebenszeit saß ich dort ab, während sich draußen in den Straßen eine Jugendrevolte vollzog. Che Guevara von Transparenten herunterlachte und der Schuss auf Rudi Dutschke noch nicht verklungen und noch nicht Teil der deutschen Gesichte geworden war, aber die Befreiung Andreas Baaders kurz bevorstand und Ulrike Meinhof sich anschickte zur wichtigsten deutschen Intellektuellen aufzusteigen, deren Texte ich später mit Leidenschaft las. Und am Ende entschied die strenge Zofe mich in den B-Zug stecken zu wollen, in diese intellektuelle Todeszone, aus der es im Grunde kein Entkommen gab, zumindest nur für wenige. Und für mich wäre es tatsächlich eine intellektuelle Endstation geworden. Eine immerwährende Geiselhaft. Ich wäre tatsächlich in die Hölle geraten. Doch meine Mutter verhinderte Schlimmeres und überredete die Domina mich vor der ewigen Verdammnis zu bewahren und ich durfte in den A-Zug gehen, dorthin, wo man zumindest die Hoffnung haben konnte, dass man werden würde, was man sein wollte und vor allem konnte.

Und so blieb ich in diesem Haus des Schreckens und wanderte nur ein Stockwerk höher. Für kurze Zeit. Keine Erinnerung daran. Doch dann eines Tages, ich weiß nicht mehr, welcher Tag es war, trat einer in unser Klassenzimmer und in meiner Diashow der Vergangenheit deutet er auf einige von uns und sagte, diese sechs müssen in eine andere Schule gehen. In eine, wie sie es nannten, Integrierte Gesamtschule. Integration war offensichtlich damals schon ein beliebtes Wort, wenn man Menschen versuchte in ein ein System zu zwingen, das für sie vollkommen ungeeignet war oder wie es Günther Anders einmal formulierte, nicht für sie da war, sondern für das sie dazusein hatten. Damals denke ich, hat sich in mir das Wissen verfestigt, dass Schüler und Schülerinnen nichts weiter sind, als eine Verhandlungsmasse in einem System, das dazu dient Lehrer und ihre Bedürfnisse zufrieden zu stellen. Dieses Geschwafel von wegen die Schüler stünden im Zentrum des Bildungsauftrages ist bis heute eine der größten Lügen des österreichischen Bildungssystems. An dieser Meinung hat sich, seit ich die Front in diesem pädagogischen Krieg gewechselt habe, nichts geändert.

An diese Jahre als Integrationsschüler habe ich viele Erinnerungen, die ich vielleicht an anderer Stelle in loser Abfolge zur Kenntnis bringen werde, aber hier sei nur soviel gesagt, heute würde man die Schule als Brennpunktschule bezeichnen. Und auch dort sah ich in einen Hinterhof, mehr ein Parkplatz und ein Fußweg, als ein echter Schulhof. Den Turnsaal erreichte man unterirdisch, wie die Regierung Schüssel das Bundeskanzleramt zur Jahrtausendwende. Wenn ich dachte, die Domina der Volksschule sei schon ein Höllenwesen gewesen, so musste ich nun zur Kenntnis nehmen, dass es einen Ort gab, der mehr Hölle war, als alles, was ich bis dahin kennengelernt hatte. Mitten in die pädagogische Wende hinein, als die alten Nazis endlich aus der Schule verschwanden oder ich dachte, sie seien aus der Schule verschwunden, kam ich in einen Schulversuch, den der Integrierten Gesamtschule, der eine ebensolche Lüge war, wie die Demokratisierung der Schulen und Universitäten in den siebziger Jahren. Von einer Gesamtschule waren wir meilenweit entfernt. Da saßen die Arbeiterkinder dicht an dicht, Mädchen und Jungen, lärmend und tobend, aus bildungsfernen Schichten, wie man heute sagen würde, keine Migrantenkinder, nein, österreichische Kinder aus Gemeindebauten und mitten drinnen ich, mit fünf anderen verschüchterten kleinbürgerlichen Angestelltenzöglingen und Arbeiterbuben, auch ein Weinbauernkind war darunter, einer der heute an eine Handelskette einen tollen Wein liefert und mit verkümmerten Fingern und Händen sich einen Platz in der Welt erobern musste. Wir alle, wie wir da hinten im Eck saßen, still, um nicht aufzufallen, waren in Geiselhaft des Bildungssystems geraten. Gerettet hat mich ein Lehrer. Er hat mich bewahrt vor der Düsternis, die sich schon damals in der Arbeiterschaft gezeigt hat, vor dem Untergang der sozialistischen Partei und der aufsteigenden Sozialdemokratisierung der österreichischen Gesellschaft und des österreichischen Bildungssystems.

Ein Lehrer, der uns behandelte wie Menschen, beinahe würde ich sagen, auf Augenhöhe, wenn es sich nicht selbst in der Rückschau so falsch anhören würde. Er war mit uns per Du. Ließ uns unterrichten, wenn er abwesend war, ich an vorderster Front. Auf Schullandwochen hatten wir Freiheiten, wie kaum eine andere Klasse. Er zeigte mir, wie Unterricht auch sein kann: offen, frei, am Rande der Legalität. Ihm verdanke ich die Vorstellung, dass Schule mehr sein kann, als ein Umerziehungslager, eine Geistvernichtungsanstalt. Ihm verdankte ich auch die Möglichkeit, eine AHS-Oberstufe zu besuchen. In den Sommerferien nach Schulschluss des letzten Schuljahres lernte er mit mir für die Aufnahmsprüfung in Mathematik in das Oberstufenrealgymnasium der sozialistischen Musterschule in meinem Heimatbezirk. So entkam ich dem Alptraum, den wir heute Fuck-ju-Goethe nennen. So geriet ich unter die Gymnasiasten und entschied, Lehrer zu werden, denn ich wollte eines Tages auf die andere Seite der Front wechseln.

Die Gymnasialzeit hatte ihren ganz speziellen Hinterhof. Er war überdacht. Hatte ein Buffet und war über das ganze Schulgebäude verstreut. Ein wunderbarer Stahlbetonzweckbau aus den siebziger Jahren. Fünf Jahre durfte ich darin verbringen. Eine Klasse zweimal durchlaufen. Das Wiederholen der siebten Klasse hat mich vor den Gymnasialschülern der Wiener Elite aus den Villen der Vorstadt gerettet, aus den Klauen der Streber und der alten Nazis, die plötzlich wieder da waren, ein Lateinlehrer, der dem Lebensborn entsprungen sein hätte können, ein schwarzer (das ist hier politisch gemeint) Mathematikdespot, der als Klassenvorstand meiner Volksschuldomina in nichts nachstand, aber seine Macht eher durch psychische Folter ausübte als durch körperliche Züchtigung. Meine Repetentenschaft brachte mich unter Meinesgleichen: Aussätzige, Unangepasste, Zügellose, Widerständige. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich heimisch. Und wir waren Schüler, wie es sie heute kaum noch gibt. Wir waren intellektuelle Schwämme. Wir wollten lernen, wollten leben, wollten unsere Lehrer zum Teufel schicken und zeigten ihnen das offen und ohne Angst. Die Jungen, die uns für zwei Jahre ertragen mussten, hatten ihre liebe Not mit uns. Aber sie brachten uns auch durch dieses unselige Ritual der Matura, das damals schon sinnentleert war und heute völlig aus dem Ruder läuft, weil es nichts mehr spiegelt, was in der Gesellschaft auch nur ansatzweise von Bedeutung ist.

Und so entkam ich mehr recht als schlecht der Schule. Bestand die Reifeprüfung. Durfte nun an die Universität. Der Rest ist Geschichte. Heute bin ich Lehrer, seit beinahe zehn Jahren. Und ich blicke wieder in einen Schulhof. In einen Hinterhof der Bildungspolitik. Stehe Tag für Tag meinen pädagogischen Mann an der Front. Immer hadere ich mit meiner Macht, die mir von Gesetzes wegen zugesprochen wurde. Ich blicke in einen Hinterhof, der mindestens so trostlos ist, wie jener in meiner Volksschulzeit. Die alten Nazis sind nun alle tot. Meine Lehrer, die jungen, die engagierten, die pädagogisch bemühten sind bereits in Pension. Gnießen ihre wohlverdiente Rente, die sie sich auf dem Rücken der Schüler erarbeitet haben. Und ich blicke in den Hinterhof, stehe am Fenster und denke, was hätten wir nicht alles erreichen können, wenn wir mutiger gewesen wären, eine Schule, in der mehr von A.S.Neill die Rede wäre, eine Schule in der nicht das Top-down sondern das Bottom-up-Prinzip herrscht, kein Gottesgnadendirektionsprinzip.

Die Hinterhöfe unseres Schulsystems sind die gleichen wie vor fünfzig Jahren und das Erbärmliche darin ist, dass wir Lehrer uns in diesem System eingenistet haben und so tun, als wäre alles nicht so schlimm. Die Hinterhöfe sind betoniert und grau wie schon vor Jahrzehnten. Nur eines hat sich geändert. Die Schulen sind nicht mehr nur Geistesvernichtungsanstalten für Schülergehirne, sondern mittlerweile wird darin auch der Geist der Lehrer in einen Ungeist alter Zeiten zurückverwandelt.

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eingestellt am: 20.1.2025 | zuletzt aktualisiert: 20.1.2025
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