Demokratie – Lateinamerika – Peronismus | 1991

Es gibt eigentlich nirgendwo auf der Welt eine eindeutige Begrifflichkeit von Demokratie, also auch nicht in Lateinamerika. Wenn ich in meinem Artikel von Demokratie spreche, ist die republikanisch-neuzeitliche-repräsentative Demokratie, mit Mehrparteiensystem und Menschenrechten gemeint, die vor allem in Europa und Nordamerika entwickelt wurde und seit mindestens 100 Jahren als Vorbild und Normsystem für alle zum Club der "Zivilisierten" gehörenden Länder gilt.

Nun stellt sich die Frage, warum nicht auch in den lateinamerikanischen Ländern eine derartige demokratische Lebensweise liberaler Prägung für längere Zeit die machtpolitisch bestimmende Variante politischer Organisation wurde. Ein Grund dafür liegt im Import einer politischen Kulturform – der Demokratie – die nicht in den Ländern Lateinamerikas entstand, also auch nicht Produkt, eigener politischer und sozialer Erfahrungen ist.

"Das Modell liberaler Demokratie – sagt Kaplan knapp und illusionslos – "ist importiert und mehr als eine magische Formel als eine autonome und kreative Methode des Wissens und der Aktion adoptiert. Es ist kein wirklicher und organischer Ausdruck eines Prozesses interner sozioökonomischer Kräfte, die eine unabhängige kapitalistische und selbsttragende Entwicklung anstrebten." (Mols 1985:25)


Das Modell der Behinderung nach Mols
In lateinamerikanischen Staaten HERRschen nun andere sozio-ökonomische Bedingungen als in den industrialisierten Ländern Europas und Nordamerikas, an denen sich die LateinamerikanerInnen orientieren, wodurch es unweigerlich zu Entwicklungen kommt, die von EuropäerInnen und NordamerikanerInnen meist nicht verstanden werden, da sie von ihrer demokratischen Lebensform als Idealzustand ausgehen und jede Abweichung von dieser Norm als undemokratisch ablehnen, oder als faschistisch oder kommunistisch diffamieren.

Nach Mols gibt es vier Behinderungen, die in einer Diskussion über eine offene und pluralistische Demokratie in Lateinamerika berücksichtigt werden müssen. (Mols 1985:37-50)

Als erstes wäre die eingeschränkte nationale Autonomie der lateinamerikanischen Staaten zu nennen, d.h. die demokratischen Reformkräfte waren eigentlich seit den Unabhängigkeitsbewegungen ein Spielball einer jeweiligen Hegemonialmacht, die sich diese zunutze machte, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Waren die politischen Ziele der Hegemonialmacht erreicht, wurden die betreffenden Reformkräfte meist im Stich gelassen. Das neuste Beispiel dafür ist Nicaragua nach den freien Wahlen.

Als zweite Behinderung erweist sich in Lateinamerika der/die sogenannte "mündige Bürgerin". Für eine offene, pluralistische Demokratie ist eine Gesellschaft nötig, in der ein hohes Maß an Partizipation aller zu ihr gehörenden Menschen HEERscht. Gerade in Lateinamerika gibt es viele Bevölkerungsgruppen, die am offiziellen politischen System nicht in gleichem Maße partizipieren können, dürfen oder wollen. Noch immer gibt es die drei großen Einflußsphären Militär, Kirche und Oligarchie, die weite Teile der Gesellschaft beHERRschen. Bevor Demokratie überhaupt entstehen kann, muß den unterprivilegierten Schichten, die ums nackte Überleben kämpfen (wobei sich durchaus auch beim Kampf ums Überleben, demokratische Strukturen entwickeln können), ein Zugang zum politischen System eröffnet werden, d.h. es müssen ihre Lebensbedingungen entscheidend verbessert werden (Alphabetisierung, Wohnungsbau, Arbeitsbeschaffung, Ernährungsverbesserungen), um sie aus der Marginalisierung zu holen, von der nahezu 50% der lateinamerikanischen Bevölkerung betroffen sind.

Als dritte Behinderung ist der Bereich soziale Demokratie zu nennen. Sehr oft wird in Lateinamerika die sozioökonomische Absicherung der Demokratie, jener der politischen vorgezogen, um "die 'Linie der Armut und der Mittellosigkeit' zu durchbrechen, um ein gewisses Maß sozioökonomischer Homogenität an zu erreichen, ohne das Demokratie erfahrungsgemäß gar nicht denkbar ist." (Mols 1985:47)

Aus den drei oben genannten Punkten ergibt sich schließlich die vierte Behinderung, die sich im Verhältnis von Staat und Gesellschaft manifestiert. Darunter versteht Mols die Stärkung der Individuen und ihrer Organisationen gegenüber dem Staat, d.h. diese müssen aus dem Zustand der BeHERRschtheit heraustreten. Viele Organisationen – wie z.B. Gewerkschaften, Verbände, Kammern und Parteien – sind nicht immer nur VertreterInnen ihrer Mitglieder, sondern folgen nicht selten auch "den Regeln einer politischen Ordnungslogik sui generis (...), die weniger auf Spontaneität und Eigeninitiative und mehr auf gouvernemental festgesetzte Erlaubnisgrade setzt." (Mols 1985:50)

Diese vier Behinderungen, die Mols in seinem Ruch darstellt, "verweisen auf Behinderungen des Modells offener repräsentativer Demokratie." (Mols 1985:50) Diese wirken sich von Zeitraum zu Zeitraum und von Land zu Land verschieden aus.


Fallbeispiel Argentinien
Argentinien ist in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall. Gerade weil Argentinien als das europäischte Land Lateinamerikas gilt, ist immer wieder die Frage zu hören: Warum Argentinien nicht zu einem entwickelten industrialisierten Land euro-amerikanischer Prägung geworden ist, wo es doch alle Vorraussetzungen dafür besaß: reiche Rohstoffe, hohe Erträge aus Landwirtschaft und Viehzucht, eine relativ gut entwickelte Großindustrie, eine europäische Migrantlnnenbevölkerung und eine differenzierte Klassenstruktur mit dazugehörigen Organisationen.

Die vier, von Mols postulierten Behinderungen sind nun aber derart schwerwiegend, daß die Entwicklung zu einer offenen, pluralistischen Industriegesellschaft dennoch verhindert wurde und wird. Die Schwierigkeiten einer lateinamerikanischen Demokratiediskussion aus europäischer Sicht, zeigt sich sehr deutlich an der Situation Argentiniens von 1943-1955, am sogenannten Peronismus. Die PeronistInnen, allen voran Juan und Eva Peron, sie gaben dem System (Peronismus) und der Partei (Partido Peronista) den Namen, versuchten diese Behinderungen zu durchbrechen.


Nationale Autonomie
Schon im Präsidentschaftswahlkampf von 1946 griff die amerikanische Regierung in die inneren Angelegenheiten Argentiniens ein. Einerseits versuchte sie das peronistische Regime als faschistisch zu diffamieren, indem sie Verbindungen hoher Militärs zu deutschen NationalsozialistInnen nachwies; andererseits wurde Argentinien wirtschaftlich isoliert und vom Marshallplan ausgeschlossen, als späte Rache für Argentiniens neutrale Haltung während des Zweiten Weltkrieges.

Ziel dieser Interventionen war es, die wachsende Autonomie Argentiniens und seine HegemonialStellung zurückzudrängen, um die eigene Position zu festigen (nachdem Englands Einfluß zum großen Teil verloren gegangen war) und weiter auszudehnen.

Trotz dieser Einflußnahme gelang es den PeronistInnen, einen eigenen wirtschaftspolitischen Kurs zu steuern, der die Macht der USA zurückdrängte. Ausländische Betriebe wurden nationalisiert (Eisenhahnen, Telefon, Elektrizität), die Konsumindustrie gefördert, Handelsabkommen mit Chile, Bolivien und Paraguay abgeschlossen. Gleichzeitig wurde der ArbeiterInnenklasse (vor allem den Gewerkschaften) eine Partizipation am politischen System ermöglicht, von den Frauen 1948 das Wahlrecht erkämpft und schließlich die Ideologie des Justizialismus (soziale Gerechtigkeit) begründet, indem Individuum und Kollektiv zu einer Harmonie zusammengeführt werden sollten. Zu dieser eigenständigen Ideologie gehörte auch die Idee des Dritten Weges, wonach eine neutrale Position zwischen den Machtblöcken (West-Ost) angestrebt wurde.

All diese Maßnahmen stärkten die ohnehin große nationale Autonomie Argentiniens, brachte ihr bis 1950 eine starke Vormachtstellung im Cono Sur (südliches Südamerika) ein und besänftigte die nationalen Kreise. Jedoch wurden diese Maßnahmen aus Devisenreserven bezahlt, und seit Beginn der 1950-er Jahre kam es zur Schwächung der nationalen Autonomie. Die Schrumpfung der im Krieg erwirtschafteten Devisenreserven, verbunden mit zwei klimatisch bedingten Mißernten, führten zu einer Öffnung des peronistischen Regimes zu den USA. Auslandsinverstitionen wurden wieder zugelassen, die Sozialreformen gebremst, Großindustrielle wieder begünstigt, wodurch die sozialen Spannungen im Land zunahmen.

Im Großen und Ganzen erreichte der Peronismus aber ein hohes Maß an nationaler Autonomie, die er beinahe zehn Jahre hindurch, mit mehr oder weniger demokratischen Mitteln, erhalten konnte. Eine lange Zeitspanne für lateinamerikanische Verhältnisse.


Marginalisierung
Argentinien ist im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas mit einer differenzierten Klassenstruktur ausgestattet. Bis zur Jahrhundertwende regierten die Oligarchie, Kirche und Militärs uneingeschränkt. 1912 erhielten die Männer das Wahlrecht und es entstand eine breite Mittelschicht – vertreten durch die OCR (Union Civica Radical). Durch die Industrialisierung Argentiniens seit 1900 entstand ein politisch engagiertes Proletariat, das sich zunehmend organisierte (beeinflußt von Ideen europäischer EinwanderInnen, die den Syndikalismus, Anarchismus, Sozialismus und Feminismus mitbrachten).

Von 1916 (erste frei Wahlen) bis 1930 (Militärputsch) gab es in Argentinien die Möglichkeit, Demokratie als Lebensform zu erfahren, zumindest für den größten Teil der männlichen Bevölkerung. Von einer politischen Marginalisierung waren vor dem Peronismus vor allem die Frauen betroffen, da ihnen das Wahlrecht verweigert wurde. Die PeronistInnen erhöhten diese, für lateinamerikanisehe Verhältnisse ohnehin hohe Partizipation der Bevölkerung, durch das Wahlrecht für Frauen, eine weitreichende Sozialgesetzgebung und das Einbinden der ArbeiterInnenklasse in das politische System. Doch diente die Mobilisierung der ArbeiterInnen ursprünglich nicht ihrer Identitätsbildung, sondern vielmehr ihrer Disziplinierung, d.h. der Verhinderung revolutionärer Situationen. Durch diesen Disziplinierungsversuch brachte der Peronismus eine wesentliche Vorraussetzung für eine funktionierende Demokratie zustande, nämlich die ArbeiterInnen am politisch-ökonomischen System partizipieren zu lassen.


Soziale Demokratie
In diesem Punkt bestätigt der Peronismus die These von Mols zur Gänze. Der Idee von einer sozialen Demokratie wurde im Peronismus deutlich der Vorzug gegeben. Dies zeigt sich einerseits in der Ideologie des Justicialismo und andererseits in den weitreichenden Sozialgesetzgebungen, durch die der Lebensstandard vor allem der ArbeiterInnen schlagartig verbessert wurde. Diese Verordnungen bestanden in Miet- und Preiskontrollen, Festsetzung von Höstpreisen für Nahrungsmittel, Mindestlöhne, Schutz- und Sicherungsverpflichtungen, Wohnbauprojekte, Pensionsversicherung, Krankenversicherung, usw.

Diese Reformen wurden auch durch die peronistische Verfassung von 1949 bestätigt und erhielten dadurch Rechtscharakter (allerdings nicht immer einklagbar). In die Verfassung wurden die Rechte der Arbeiter (ohne Streikrecht), die Rechte der Familie, die Rechte des Alters und die Rechte auf Erziehung und Kultur aufgenommen.

Jedoch zeigt sich gerade in der peronistisehen Verfassung das ganze Dilemma der peronistischen Demokratiesierungspolitik, denn so sehr die Rechte des Einzelnen (vor allem der Schwachen) anerkannt und gestärkt wurden, so wurden doch auch dem Staat, bzw. dem Präsidenten (Juan Peron), weitreichende Machtmittel zur Verfügung gestellt, die seiner Monopolisierung der Macht entgegenkamen und die Kontrolle der BürgerInnen begünstigte.

Durch die Etablierung der peronistischen Partei, die weite Bereiche des politischen Lebens beHERRschte, wurde zwar der Einfluß der Oligarchie, Kirche und des Militärs zurückgedrängt, aber eine pluralistische offene Demokratie auf staatlicher Ebene verhindert. Das vom Ehepaar Peron geschaffene HERRschaftssystem glich einer Pyramide, wobei die Spitze autoritär, die Einzelteile aber durchaus demokratisch geführt sein konnten. Dieser Gegensatz zwischen Autoritarismus und Partizipation ist eine der wesentlichsten Behinderungen für lateinamerikanische Staaten auf dem Weg zur Demokratie. Der Peronismus vermochte diesen Gegensatz nicht zu durchbrechen, nicht zuletzt, weil das System zu stark an den beiden Fürungspersönlichkeiten Juan und Eva Peron ausgerichtet war.


Staat und Gesellschaft
Auch hier durchbricht der Peronismus nicht die nach Mols typischen Behinderungen; denn so sehr versucht wurde, die ArbeiterInnen über ihre Organisationen in das politische System einzubinden, so sehr wurden sie von diesen Organisationen (Gewerkschaften, Partido Peronista) bevormundet. Peron forderte für den Zugang zur Macht und zu den sozialen Vergünstigungen eine Loyalitätsbekundung dieser Organisationen. Je schlechter die Zeiten für das peronistische System wurden, desto stärker wurden diese eingemahnt. Die ArbeiterInnen und die autoritär regiernden Führungspersönlichkeiten Juan und Eva Peron waren jedoch aufeinander angewiesen, standen in einem Spannungsverhältnis, das zu Beginn, als die Reformen noch griffen (1945-50), recht stabil war, das jedoch mit zunehmenden Arbeitskonflikten (1950-54) und stagnierenden Sozialreformen relativ instabil wurde.

Schließlich führte diese Instabilität 1955 zum Sturz Perons (Eva Peron starb 1952) durch die Militärs und zum vorläufigen Ende des Peronismus. Herbeigeführt wurde es durch eine Auseiandersetzung mit der katholischen Kirche. Die Regierung nahm das Scheidungs- und Prostoitutionsverbot zurück und hob den obligatorischen Religionsunterricht auf.

Wie bevormundet die Bevölkerung tatsächlich war, zeigt das Verhalten Perons bei seinem Sturz. Aus Angst vor einer kommunistischen Revolution wendete sich Peron gegen eine Bewaffnung der ArbeiterInnen. Die Gewerkschaften (also die ArbeiterInnenorganisationen) hielten sich an diese Anweisung. Nie zog sich der Staat während des peronistischen Regimes aus der sogenannten zivilen Gesellschaft zurück, im Gegenteil, der Spielraum für die mündigen BürgerInnen wurde auf ein Minimum beschränkt.


Zusammenfassung
Argentinien gelang es also, einige der Behinderungen zu durchbrechen, war jedoch zu schwach, diesen Weg konsequent durchzusetzen. Gleichzeitig führten klassische lateinamerikanische Widersprüche (Politik/Militär, Stadt/Land, Kirche/Staat usw.) zur Destabilisierung des Systems und schließlich zum Putsch durch die Militärs. Von der peronistischen Regierung wurde die nationale Autonomie stark forciert, die Marginalisierung beseitigt, durch soziale Reformen die Partizipation weiter Teile der Bevölkerung erhöht und die Identitätsbildung und Selbständigkeit der BürgerInnen gefördert, die selbst durch die Videla Diktatur in den 70er und 80er Jahren nicht gebrochen werden konnte.

Dennoch entstand kein offenes, pluralistisches Demokratiesystem europäischer Prägung, sondern ein für Lateinamerika typisches autoritäres Regime, das schließlich durch einen Militärputsch gestürzt wurde. Zu diesem Putsch trug meiner Meinung nach die inkonsequente politische Haltung der Regierung (vor allem Perons) bei. Denn einerseits wurden zwar die ArbeiterInnen gestärkt, anderseits aber Armee, Kirche und Oligarchie nicht wirklich entmachtet. Seit 1950, als die sozialen Konflikte sich verschärften, destabilisierte das peronistische Regime jene Klassenallianz, die es ihr ermöglicht hätte, die von Mols postulierten Behinderungen teilweise zu durchbrechen. Die nationalen Kreise wurden durch eine Öffnung zum Ausland verunsichert, die Militärs durch eine Säuberung der Streitkräfte (nach einem mißlungenen Putschversuch 1952), die Arbeiterinnen durch den Stopp der Sozialreformen und schließlich die katholische Kirche durch die oben genannten Maßnahmen.

Diese Destabilisierung war Produkt des unbedingten Willens der PeronistInnen an der Macht zu bleiben. Peron und sein Regime verabsäumten es, rechtzeitig auch an der Spitze des Staates demokratische Strukturen zuzulassen und so einen Übergang vom autoritären System (notwendig, um die Reformen durchzuführen) zum demokratischen System (notwendig, um die Reformen abzusichern) zu ermöglichen. Letztlich wurde die Stärkung der zivilen Gesellschaft gegenüber der staatlichen Autorität nicht konsequent genug durchgeführt, was vor allem den ArbeiterInnen zum Verhängnis wurde.


Einiges über Europa
Nun stellt sich für mich die Frage, ob es für LateinamerikanerInnen überhaupt sinnvoll ist, unser Demokratiemodell zu importieren, oder ob wir EuropäerInnen nicht aufhören sollten, unser Modell als Norm zu exportieren. Die Mehrzahl der Europäerinnen hat die ignorante Angewohnheit, ihre eigenen Lebensformen als absoluten Wert zu betrachten und sich erst zufrieden zu geben, wenn der Rest der Welt sich diese angeignet hat. Im Falle der Demokratie scheint es mir nicht anders zu sein.

In einer Situation, in der die Machtverhältnisse derart ungerecht verteilt sind, kann Lateinamerika keine demokratischen Strukturen unserer Norm entwickeln, auch wenn wir es noch so sehr fordern. Es kann also in Zukunft wohl nicht darum gehen, den lateinamerikanischen Staaten zu sagen, welche Regierungsform sie sich geben wollen, sondern vielmehr sollten wir, als die aufrechten DemokratInnen endlich eine gewaltfreie Beziehung zwischen Lateinamerika (oder anderen unterentwickelten Regionen) und Europa schaffen, die es den LateinamerikanerInnen vielleicht ermöglichen könnte, ihre eigenen Lebensformen zu finden, mit diesen Erfahrungen zu sammeln und sie weiterzuentwickeln, im Sinne eines von uns immer wieder geforderten Pluralismus.

Dazu wären aber einige Veränderungen notwendig: militärischer und ideologischer Rückzug der Europäerinnen und NordamerikanerInnen aus Lateinamerika; die Rückerstattung der durch Jahrhunderte hindurch geraubten Schätze in Form von Schuldennachlässsen (die europäischen Raubzüge ermöglichten erst die Entstehung des Modells Demokratie); Förderung von vor allem regionalen und kommunalen Organisationen (Staat ist nicht gleich Bevölkerung), denn für viele EinwohnerInnen, die auf Müllbergen, in Ghettos, in den Hochanden oder den letzten Rückzugsgebieten des Amazonas leben, hat eine von Europa anerkannte Staatsdemokartie wenig Bedeutung, wenn sich dadurch ihre Lebensumstände nicht verbessern.

Letztlich wäre ein unerläßlicher Schritt zur Lösung der Probleme in Lateinamerika eine radikale Infragestellung unserer eigenen Demokratieform, d.h. Demontage unserer heutigen Regierungsformen, damit klar wird: Was sich LateinamerikanerInnen als Vorbild nehmen, ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Auch bei uns werden Krisen von oben (oft auch paramilitärisch) gelöst und bleiben so ungelöst, wie Westeuropa derzeit in eindrucksvoller Weise gegenüber den ehemaligen Ostblockstaaten demonstriert. Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Selbstmordraten steigen, der Lebensstandard sinkt, und daran wird auch die Industrialisierung nichts ändern, im Gegenteil, sie wird die Probleme noch verschärfen.

Das Modell des industrialisierten Europas ist nicht für alle tauglich und wird uns mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit in den ökologischen Untergang führen. Ebensowenig ist das europäische HERRschaftsmodell der Repräsentativdemokratie nicht für alle Menschen brauchbar. Letztlich ist meiner Meinung nach die gewaltfreie Beziehung zwischen den Konfliktparteien (1.Welt – 2.Welt – 3.Welt – usw.) der sicherste Garant dafür, daß sich den jeweiligen Bevölkerungen angemessene Lebensformen etablieren können, in Europa ebenso wie in Lateinamerika oder anderswo auf der Welt.


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Artikel erschienen in:
Zeitraum. Zeitschrift für historische Vielfalt. 1992/Heft 2, S.26-36.