20.250.124:1.632 Zum Archiv

Es reicht. Vierzig Jahre im System K. sind genug. Es ist an der Zeit, zurückzukehren zu den Wurzeln. Sich zu besinnen auf das, was einer am besten kann. Unterrichten und Schreiben. Auf die Sprache, in die einer nicht eingeboren ist, die einer aber mühselig gegen vielfältigen Widerstand erworben hat, die ihm heute sein ökonomisches Einkommen und sein intellektuelles und psychisches Auskommen sichern.

Es ist an der Zeit ein Fronttagebuch zu beginnen, in den letzten Jahren, die einer im Bildungssystem verbringen muss. Vielleicht ein wenig wie Karl Ove Knausgard es mit seinem Leben gemacht hat. Vielleicht nicht derart radikal und schonungslos. Schließlich ist einer ja Lehrer und zur Radikalität und Schonungslosigkeit gar nicht in der Lage. Aufzeichnungen führen. Öffentlich. Gespräche, Gedanken, Beobachtungen notieren und dokumentieren. Eine feststehende Regel brechen, die schon seit Anbeginn der Zeit zu gelten scheint im Schulwesen. Beinahe als ungeschriebenes Gesetz bezeichnet werden kann. Lehrer halten zusammen. Egal, was kommen mag. Sie liefern niemanden aus. Was in der Schule geschieht, bleibt in der Schule. Egal wie skandalös etwas auch immer sein mag. Corpsgeist ist angesagt, vor allem wenn es gegen die Schüler geht, gegen die Kunden des Systems K., die oftmals lästig werden und sich erdreisten den Status der Bittsteller zu verlassen. Das System K. muss beschützt werden, weil es ihr täglich Brot ist, und so wie das System K. beschützt wird, müssen auch jene mitbeschützt werden, die ihm treu ergeben sind. Doch, wenn einer, der in der Lage ist, zu schreiben, dieses Schweigen nicht bricht, dann kann er auch nicht vor seine Kunden treten und diese zum Widerstand gegen das Sysetm K. auffordern.

Nun, der Anfang ist gemacht. Nach einem weiteren, skandalösen Tag im System K., hat einer die Konsequenz gezogen und das Konferenzzimmer, wie Lehrer es in ihrem Bildungsjargon fälschlich nennen, verlassen. Es ist nämlich kein Konferenzzimmer. Es wird darin schon lange nichts mehr konferiert, verhandelt oder diskutiert, sondern es ist der Pausenraum der Lehrer. Ein Materialienzimmer. Ein Aufbewahrungsraum. Ein Räsonierraum. Die Abstellkammer der Bildungsburgen. Dort dürfen sie sein, wer sie sind, solange sie die Grenzen des guten Geschmacks nicht überschreiten. Eine Art IKEA-Spielburg für die Mitarbeiter, damit das Führungspersonal nicht bei ihren wichtigen Entscheidungen gestört wird.

Einer wie er, hat nun doch einmal zu oft gestört und weil er eben nichts gegen sein gestörtes Verhalten tun kann, das ihm durch Vater und Mutter antrainiert wurde, und das er an der Gesellschaft geschärft und zum eigenen Schutz sich als Kettenhemd angelegt hat, hat er sich aus dem Lehrerzimmer in das Arbeitszimmer zurückgezogen.


20.250.124:0.700 Zum Archiv

Das Leichenfleddern hat schon begonnen, sofort nachdem einer sich mit folgendem Satz aus dem Lehrerzimmer verabschiedete: Falls mich jemand sucht, um mit mir fachlich-pädagogische oder methodisch-wissenschaftliche Fragen zu erörtern, dem oder der sei gesagt, ich habe mich in die innerer Vorruhestand ins Arbeitszimmer zurückgezogen. Mit keinem Wort habe einer erwähnt, wie lange sein Rückzug von der Front, sein Fronturlaub andauern werde oder ob er nicht doch eines Tages zurückkehren wolle.

Es ist doch auch nicht so, dass einer, der seine Eigentumswohnung verlässt, um anderswo unterzukommen, den Anspruch auf sein Eigentum verliert. Ja, er kann auf Anfrage das Recht vergeben, diese Räumlichkeit zu bewohnen, bis er selbst sie wieder in Beschlag nimmt. Eine Besetzung jedoch dieser Wohnung, auf Grund ihres Leerstandes wäre im System K. jedoch rechtswidrig. Doch mit dem Recht in der Schule ist das so eine Sache. Einer hört ja des öfteren den Satz: Schule sei mehr als Gesetz. Diesen Satz versteht einer nicht. Eine derartige Einstellung zum gesellschaftlichen Zusammenleben ist ihm fremd. Er denkt, dass das Gesetz die Grundlage der Rechtsordnung eines Landes sei. Doch offensichtlich gibt es Orte in diesem Land, an denen das Gesetz nur ein Maßstab unter vielen für das kollektive Handeln ist. Auch wenn er am Beginn seiner beruflichen Laufbahn auf die Einhaltung der Gesetze seines Landes vereidigt wurde und schwören musste, nichts zu unternehmen, was dem Ansehen seines Landes und seines Berufsstandes schaden könne. Doch wie hat schon George Orwell so treffend festgestellt: Manche sind eben gleicher als gleich. Und nirgendwo stellt einer immer wieder fest, gilt dies in so exemplarischer Weise wie im Schulwesen.

Und so ist er nicht erschüttert, als er erfährt, dass sich bereits Personen aus dem Lehrkörper um seinen Sitzplatz bemühen, weil sie denken, er wäre ausgezogen und hätte ihn preisgegeben. Es vertieft nur seine Trauer über den Verlust des letzten, in ihm unausrottbar verbliebenen Solidaritätsgedankens. Er denkt ja immer, dass zumindest ein Funken Respekt in den Menschen verblieben wäre, zumindest den Dingen gegenüber, die auf seinem Platz zurückgelassen wurden, als sichtbares Zeichen seiner möglichen Wiederkehr, seine verwaisten Hausschuhe, manche seiner Arbeitsunterlagen und in seiner Lade lagern für einen Lehrer unverzichtbare Utensilien: Klebeband, Locher, sein Spindschlüssel, der ihm den Zugang zu persönlichen Dingen sichert, seine Kaffeekapseln, die ihm an endlos scheinenden Konferenztagen das geistige Überleben sichern und eine Klammermaschine und vieles mehr, von dem hier nicht die Rede sein soll.

Der Begriff innerer Vorruhestand wurde offensichtlich als innere Kündigung wahrgenommen. Doch dem ist nicht so. Es zeugt von großem Einfühlungsvermögen der Pädagogenschaft, dass man sich nicht darum bemüht, zu erkunden, was dem einen denn zugestoßen sei, sondern sich einfach an den Hinterlassenschaften bedient. So wie man an den Kriegsschauplätzen der Welt, den Menschen, die gerade noch den letzten Atemzug gemacht haben, die Stiefel von den Beinen zieht und hineinschlüpft, als wären es die eigenen. So ist das in unserem Land. Wenn einer aufsteht und seinen Platz preisgibt, wird einer rasch ersetzt. Und vielleicht ging ja auch ein großes Aufatmen, ein Raunen, ein gut so durch die Runde, als einer sich endlich aus der Gemeinschaft der Willigen zurückgezogen hatte.

Und vielleicht könnte es ja auch sein, dass man dachte, man besetze vorsorglich den frei gewordenen Raum, kolonisiere das zurückgelassene freie Feld, das nun unbewohnt und besitzlos schien, dann würde der eine vielleicht endlich verstehen, dass er sich vielleicht zweimal überlegen werde, zurückzukehren.


20.250.125:0.855 Zum Archiv

Einer steht am Fenster und blickt in den Schulhof, über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser, auf den dahinterliegenden Hügel, in dem sich die Einfamilienhäuser wie Puppenhäuser aneinanderdrängen, als hätten sie Angst den Hang hinabzustürzen, und einer erinnert sich an die frühen Tagen, als seine Lehrerin ihn antreten ließ, neben ihrem Kateder, dem Lehrertisch, der einem Altar glich, den zu berühren er mit seinen acht Jahren nicht wagte. Und als sie ihn fragte, ein leztes Mal: Hast du dein Mitteilungsheft dabei. Antwortete er, wie er es im System K. gelernt hatte, mit einer Lüge: Nein!, denn die Lüge war die einzige ihm zur Verfügung stehende Form des Widerstands, des Selbstschutzes. Doch er war ein Kind und hatte das Lügen noch nicht ausreichend gelernt. In seinem Körper war noch ein Rest von kindlicher Unschuld eingeschrieben und so konnte die Lehrerin die Lüge von seinen Augen ablesen. Und nun, das sie ihn durchschaut hatte, baute sie sich vor ihm auf, in ihrer Allmacht und mit ihrer hühnenhaften Gestalt. Sie nahm seine Schultasche zur Hand, öffente sie, drehte sie um und entleerte sie vollständig. Bücher und Hefte flatterten wie hilflose Vögel zu Boden. Stifte und Füllfeder schlitterten über den grauen Linoleumboden, wie kleine Stückchen Holz auf eisiger See und kamen erst zwei Tische weiter zum Stillstand.

Einer stand da und wollte sich in sich selbst verkriechen. Den Blick gesenkt. Den Rücken leicht gekrümmt. Dem Blick der Klassenkameraden ausgesetzt. Die Hand der hühenhaften Lehrerin vor Augen, die wie ein Habbicht auf die Beute hinabstieß und sein Heft hervorzog, das verleugnete Heft, in dem die Nachricht an die Eltern zu seinen Verfehlungen stand. Er folgte dieser Hand, die das corpus delicti langsam in die Höhe zog, immer höher, bis es über den Köpfen der Schüler schwebte. Und dann bewegten sich die Lippen und wie durch einen Schleier hörte er: Da ist es ja! Und sein Herz raste vor Angst und am liebsten wäre ihm gewesen, der Boden hätte sich unter ihm aufgetan, ihn verschlungen. Und der einzige Gedanke, den er noch fassen konnte, war: Weg. Nichts wie weg. Und doch blieb er stehen. Angewurzelt. Er, der der Lüge überführt worden war, hatte jeden Impuls in eine mögliche, geglückte Zukunft verloren.

Erst die abschließenden Worte seiner Lehrerin: So, pack zusammen, nimm die Tasche und geh zurück auf deinen Platz, setzten ihn in Bewegung. Er sammelte seine Hefte ein, suchte seine Stifte, während die Lehrerin hinter seinem Rücken mit dem Unterricht fortfuhr. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihn. Was er damals lernte, war, es gibt keine Hilfe, keine Zuflucht, keine Solidarität. Keine Hoffnung nirgends. Man ist am Ende alleine mit seinem Elend. Der Macht der Autorität ausgesetzt. Gegenwehr sinnlos! Wer sich wehrt, wird geopfert. Der Moral der Kleinbürger unterworfen, lernte er, das Tarnen und Täuschen zu perfektionieren.

Und mit dieser Erinnerung kehrt einer an seinen Platz zurück, setzt sich an den Kateder, der nun der seine ist und blickt in die Klasse. Sieht die Gesichter der Kinder, die ihm anvertraut sind. Seine Augen streunen über das graue Linoleum des Klassenbodens und er denkt, wie beschämend wenig sich geändert hat, seit diesen frühen Tagen. Und in ihm regt sich eine zornige und wütende Stimme, das Kind, das er damals war, raunt ihm zu: Hilf ihnen. Gib ihnen Halt. Sorge dich. Sei gnädig. Und einer erhebt sich und tritt hinter dem Kateder hervor und sagt: Lasst uns Pause machen.


20.250.126:0.817 Zum Archiv

Einer hat Freistunde. Ein seltsamer Begriff wie einer meint, denn gibt es eine Freistunde, was sind dann die übrigen Stunden, die an diese angrenzen, diese eine Stunde umgeben, wie ein Blumenkranz, der sich auf dem Haupt eines Maimädchens windet. Manche sagen, das Gegenteil von Freiheit sei Unfreiheit. Es trennen also nur zwei Buchstaben die Freheit von dem, was man Abhängigkeit nennt. Doch sucht er nach ähnlichen Worten, dann findet er zahllose Inhalte, die der Unfreiheit zugewiesen werden können. Einer von ihnen, der ihm besonders ins Auge sticht, ist die Knechtschaft. Die Bindung des Knechtes an seinen Herren, also die Bindung des einen als Lehrknecht an seinen Lehrherren. Und im Umkehrschluss bedeutet Freiheit ja nichts weiter als Ungebundenheit, ohne Fesseln zu leben. Zerrissen dann die Ketten, die den Knecht an den Herren binden. In seiner Freistunde kann er also das Schulgebäude verlassen, kann durch die Tür des Arbeitszimmers treten, sie von außen verschließen. Über die Treppen, deren Zahl er wie seine Westentasche kennt, hinabsteigen und durch die Aula auf die Straße hinausspazieren. Und wenn er das Zimmer zum richtigen Zeitpunkt verlässt, dann kann er sich sicher sein, dass er keiner anderen Lehrkraft begegnen würde. Einer wäre dann zu keinem Gruß verpflichtet, zu keiner Ansprache und frei von sozialen Bindungen könnte er seiner Wege ziehen.

Er kann über den kleinen Uferweg zum Fluß hinunterschlendern. Dort, wo das Wasser gegen Osten fließt. Dort ist er frei, zu denken, was immer ihm beliebt, zu sprechen, was gesagt werden muss und er kann, wie Hesse es einst formulierte, einfach nur in den Himmel blicken. Innehalten. Sehen wie der nächtliche Nebel an den dürren Verästelungen der Bäume Kristalle anhäuft, die sich eng aneinander schmiegen und eine wundersame Landschaft in den heraufdämmernden Morgen zaubern. Eine Landschaft, die wie ein Winterzauberland erscheint und doch nichts weiter ist, als eine in Weiß getauchte Welt, die mit ihrer vorgetäuschten Unschuld dem Winter seinen Schrecken nimmt. Für nur wenige Augenblicke, wenn das aufsteigende Licht der Sonne sich über das Zauberland wirft, kann er, wenn er genau hinhört, ein Klirren vernehmen, kann er der Natur lauschen. Da rauscht nicht die Fülle der herbstlichen Blätter, das Zwitschern der von Vorfrühling erotisierten Vögel und kein Schilf raschelt am Ufer des Flusses und verleitet so manche Liebende sich zu paaren.

Und in diesemn Momenten ist es ihm wieder eine Freude, ins Klassenzimmer zurückzukehren, sich vor die Schüler hinzustellen und zu lehern, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Dann ist es ihm möglich, von der Schönheit in der Welt zu sprechen, vom Sommer, der ihm jedes Jahr aufs Neue den Atem raubt und den er aus Gedichten kennt. Und er kann vom Herbst sprechen, den Rilke so wunderbar einfach mit den Worten beschrieb: wenn die Blätter treiben. Dann ist es ihm möglich von der Leichtigkeit des Lebens zu sprechen, die in ihm schwingt, wie eine leichte Melodie, ein Walzer, der über der Donau schwebt, über seiner Kindheit, wie ein Omen für eine bessere Zukunft. Und dann denkt er, dass es viel zu sagen gäbe, vieles zu sehen, vieles zu erklären. Und die Schüler sind nicht mehr nur Teil einer anonymen Masse, Mitglieder einer Klassengemeinschaft, sondern Individuen mit einem wachen und offenen Geist.

Und dann stellt er sich vor, wie er vor der Klasse steht und vom Nebel spricht, in dem keiner den anderen sieht und von der Bedeutung der Raben in den Romanen der Weltliteratur und er stellt sich vor, dass ein Schüler oder eine Schülerin, eine einzige, ihn hört, ihn sieht, ihn versteht und anlächelt, dankbar ist für das Gesagte. Dankbar dafür, dass einer ihr den Weg ebnet zu den Erscheinungen der Welt. Und für diese eine oder diesen anderen lohnt es sich zum Schluss doch noch, diesen Tag zu leben. Doch gäbe es die eine oder den anderen nicht mehr, dann müsste er seinen Tag und seine Berufung an den Nagel hängen und hinausgehen in die Nacht. Verschwinden wie einst Joseph Mazzini ins Eis ging. Am Ende eines Tages in Zeiten des Schreckens.


20.250.127:0.700 Zum Archiv

Machmal denkt einer, dass die Schule, in der er seinen Dienst leistet, ein wenig einer ehemaligen Sowjetrepublik ähnelt. Nur ohne die wunderbare Hymne dieses Landes, die klingt wie die russische Seele in einem dostojewskischen Roman. Und obwohl er sympathisiert mit manchen Texten aus einer Ära, die längst vergessen scheint, mit einem Manifest, in dem geschrieben steht Ein Gespenst geht um in Europa. Und in welchem von nichts anderem die Rede ist als vom System K., in seiner urspünglichen, allgemeinsten Form, denn darin wird gesprochen von der Verwandlung des Systems K. von einer verhüllten Ausbeutung in eine offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung. Dass dieses Manifest in ein Regime mündet, das man später sozialistisch nennt, dafür kann man weder die Autoren noch das Manifest verantwortlich machen. Deshalb ist ja das darin Geschriebene nicht weniger wahr oder bemerkenswert.

Und manchmal, wenn einer in einer Konferenz sitzt und seinem kollegialen Vorgesetzten darüber sprechen hört, wie stolz er darauf ist, dass die Schule sich in sein Unternehmen und die Kollegenschaft in seine Mitarbeiter verwandelt haben, als wäre er der Chef irgendeiner Tochtergesellschaft eines globalen Mutterkonzerns und er ihr CEO, ihr Chief Executive Officer, was ja im Deutschen bei weitem nicht so glamourös klingt wie im englischen Businesssprech, also ein Geschäftsfüher. Einer, der die Geschäfte der Bildungseinrichtung führt, in der alle anderen ihren Dienst leisten. Der CEO, der seine Position als Abteilungsleiter mit einer höheren Berufung im System K. verwechselt, hat der Schule des einen mit einer straffen Hierarchie ausgestattet, in der jede Form des Widerspruchs als Ketzerei angesehen wird. Als wären die Lehrer Gläubige und damit die, die vom Glauben abfallen, Häretiker. Und was mit Ketzern noch vor nicht allzulanger Zeit geschah, wissen selbst die Menschen, die sich lange Jahre von Bildung fernhielten, als wäre sie eine Krankheit, ein Makel, ein Zeichen des Abstiegs.

Sein Vorgesetzter, der sich vielleicht als Chief Executive Officer sieht, ein Titel, der den Kriegzustand, in dem sich das System K. befindet, bereits in der Bezeichnung trägt, denn im Chief steckt der Häuptling, der Anführer, in Executive die Hinrichtung durch die Schergen der Revolution und im Officer der hochrangige Polizist oder Soldat, einer der in der Befehlskette Kommandos gibt, die von oben nach unten in Windeseile, von Meldeläufern in primitiveren Kriegszeiten per pedes, zu Fuß weitergegeben wurden oder später von Funkern aus den Schützengräben des ersten großen globalen Krieges über den Äther weitergetragen wurden und heute eilen sie von Haus zu Haus, über Satelliten, die über den Köpfen der Menschen schweben, leicht wie die Flocken des Winters, die aus verdeckten Himmeln, aus den Wolken, die sie leichtgläubig Clouds nennen, fallen.

Und manchmal sitzt einer eben am Fenster, dem Lieblingsplatz an seinem Arbeitsort und blickt hinaus. Vielleicht, weil einer dann im Geiste wandern kann, hinaus über die Berge, wie einst Lenz an einem Zwanzigsten durch's Gebirg ging. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Oder er zieht los, wie einer aus Eichendorfs Gedicht Sehnsucht, in dem dieser so wunderbar über die Natur notierte und was in ihr möglich gewesen sei, bevor das System K. sich über das Land breitete, wie ein Geschwür jeden Lebensbereich eroberte, selbst das Privateste noch in Ware verwandelte: Am Fenster ich einsam stand und hörte aus weiter Ferne ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leib entbrennte, da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte in der prächtigen Sommernacht! Ja, wenn er selbst mitreisen könnte, denkt er an solchen Tagen an den Fenstern, die nicht mehr aus Holz, sondern aus Metall gefertigt sind und kalt sind, wie das Leben hinter den Fassaden. Mitreisen, hinauswandern in die hereindämmernde Sommernacht, die ihn auch im Winter warm hält und ein Gefühl der Weichheit vermittelt.

Und wenn er an diesen Tagen hört, dass der Chief Executive Officer über die Lehrerschaft, über die Schüler spricht, als wären sie eine Ware, eine Ressource, eine unerlässliche Zutat für das Produkt Bildung, dann kann er nicht anders als zu denken, sein Arbeitsplatz habe sich in einen Sowjektkosmos verwandelt. An der Spitze der Parteivorsitzende, umgeben von einem Parteivortsand, die vom Altersschnitt her kurz vor dem Sprung in den Ruhestand ist, eine Kohorte, die das X in seinem Generationennamen trägt, das X, das durch einen Milliardär in Verruf geraten ist, das X, das das Weibliche meint und nicht das Männliche und scheinbar im Widerspruch zum Führerkult steht und sich doch so konsequent ihm unterwirft. Und wenn einer daran denkt, dann steigt in ihm der Zorn auf, denn eine Konferenz, eine Versammlung der Willigen ist ja doch nichts weiter als ein Volkskongress, der das von oben verordnete nach unten Durchgereichte, abstimmt, darauf die Farbe der Demokratie pinselt, obwohl niemand weiß, welche Farbe die Demokratie hat. Manche meinen vielleicht sei sie weiß, wie die Unschuld, andere glauben möglicherweise, sie sei schwarz wie der Tod oder rot wie der Teufel. Er denkt, die Demokratie hat keine Farbe, weil sie eben eine Fiktion ist, eine Utopie, ein Fabelwesen, das durch diese finsteren Zeiten geistert, wie eine wahnhafte Vorstellung aus besseren Tagen.

Und so sitzt einer im monatlichen Volkskongress und hört wie die Parteisoldaten über ökonomische Kennzahlen, Marketing und Akquise sprechen und einer weiß doch zugleich, dass das einzige, was eine Schule langfristig zu einer Bildungseinrichtung mit Glanz und Gloria führt, die Lehrer sind, aber nur wenn sie sich aus Parteisoldaten, aus Mitläufern, aus Mitarbeitern in offene, aufgeklärte, freundliche, gerechte und kommunikative Menschen wandeln, die mehr sind als Fachidioten. Die in der Lage sind, Zusammenhänge zu erkennen. Die mit den Schülern auf Augenhöhe kommunizieren, nicht von ihrem Alter, sondern von ihrem Machtbewusstsein her. Und weil er weiß, dass er unter den Willigen der Unwilligste ist, der Sand im Getriebe, blickt er aus dem Fenster, wie damals, als er sich schon in den frühen Tagen seiner eigenen Schulzeit fremd gefühlt hatte, und lässt die Gedanken in ein Land vor seiner Zeit wandern, in ein Land, das Thomas Morus bereits im Jahr Fünfzehnhundertsechzig, also noch bevor die Jesuiten in die Welt der Schule eintraten, Utopia nannte.


20.250.131:0.715 Zum Archiv

Die Pendelfahrten mit dem Auto, die einer zum Arbeitsplatz zurücklegt sind lange und mühselig, vor allem in den späten Herbstmonaten und den Tagen des Hochwinters. Im Sommer jedoch, wenn die Sonne die Welt besser macht, weil einer die Fenster seines Wagens öffnen kann, der warme Fahrtwind durch den Innenraum streift, ihn berührt, wie eine sentimentale Melancholie nach einer Zeit, in der die Welt noch offen war, denkt er, es ist möglich, den Tag für sich zu gewinnen. Doch an Wintertagen, wenn das Licht sich kaum aus der Dunkelheit befreien kann, wenn das Licht, kaum dass es nach dem Tag gegriffen hat, bereits wieder hinabgezerrt wird in die Nacht, wo es ruhen muss und den Menschen keinen Nutzen bringt, an diesen Wintertagen, trübt sich die Stimmung von einem ein. Und die Tage scheinen wie ein Verlust von etwas noch nicht Gewonnenem zu sein und dann hält er die Fenster seiner Kutsche geschlossen und bleibt bei sich selbst. Seine Gedanken tragen ihn über die Straßen bis ans Ziel, frei nach dem Motto von Kafka: Der Weg ensteht beim Gehen.

Und auf diesen langen Wegen durch die nie endenwollende Nacht denkt er über die Schüler nach, die ihm anvertrauten Menschen, die von ihm beaufsichtigt, mit Informationen gemästet, Tag für Tag mit Dingen konfrontiert werden, die ihnen so fremd erscheinen, wie die Länder, die sie zwar ihre Heimat nennen, aber nur aus Urlauben kennen. Er füttert sie mit Welterfahrung, die sie kaum verstehen und die sie noch weniger interessiert, weil sie mit ihrem Leben, dem sie ausgesetzt sind, nichts gemein hat, weil die Nützlichkeit dieser Fremderfahrung in einer Zeit entstand, die für sie so fern ist wie die eigene Zukunft.

Und die Schüler, denkt einer, sind im System K. einerseits seine Kunden, denn sie konsumieren seines Unterrichtes, auch wenn ihre Eltern die Zeche dafür bezahlen, denn Schüler sind einkommensloses Volk und daher eigentlich nutzlos und haben ihren Wert nur als eine Art Reservearmee des Systems K., die zuallerst Geld kosten, eine Investition in die Zukunft sind, sogenannte futures, per Definition ein Hebel, um das Vermögen eines Staates zu vermehren, aber wenn sich die Ressource Schüler eines Tages nicht lohnt, verwandelt sie sich in einen Abschreibungsposten, und den einzelnen in einen Versager, in totes Kapital verwandelt, draußen, in der Welt, in den Produktionsstätten, wo sie als nützliche Diener des Systems K. im Höllentempo Mehrwert generieren, der alles in den Abgrund reißt, was mit dem vorgegebenen Tempo und den zu erreichenden Kennzahlen nicht Schritt halten kann. Und dort, im Epizentrum des Systems K., wo Gott so wichtig wäre, für die Armen, dort versagt das Religiöse in besonderer Weise und beweist seine Nutzlosigkeit für die Verlorenen, wie Marx es einst formulierte, als er schrieb, sie sei das Opium für das Volk. Eben und vor allem auch in der Schule, denkt einer.

Und das Wunderbare an der Steuerleistung für das System ist, dass die Eltern das Riskio dieser Wette auf die Zukunft ihrer Kinder selbst tragen müssen, ohne Mitbestimmungsrecht, in den Belangen, die in der Schule geschehen und zu geschehen haben. Sie geben ihre Kinder, manche vertrauensvoll, andere erfüllt von Gleichgültigkeit für ihr Schicksal, in die Hände der Lehrenden und geben sich der Hoffnung hin, die in dem heute so beliebten und allgegenwärtigen und doch so nichtsagenden Satz gipfelt: Alles wird gut.

Doch nichts wird gut, denn sie füttern mit ihrer Steuerleistung das System K., das ihre Kinder zur Ware degradiert und halten so die Maschine, den Apparat in Bewegung, und der Teil, der dem Verurteilten in der Strafkolonie das Gerichtsurteil in die Haut tätowiert, nennt Kafka Egge. Ein Begriff aus der Landwirtschaft, ein Werkzeug, das den Boden bearbeitet, wie die Egge die Haut. So wie Lehrer die Schüler bearbeiten, ihnen Informationen eintrichtern, einschreiben in ihr Denken, für den Tag am Ende der Schullaufbahn, wo alles sich wundersam in Wissen verwandeln solll und wieder aus ihnen herausquellen soll, wie das Blut des Delinquenten aus dem Körper fließt, wie es bei Kafka heißt: das Blutwasser wird dann in kleine Rinnen geleitet und fließt endlich in diese Hauptrinne, deren Abflußrohr in die Grube führt.

Und wenn man bösartig unterstellen wollen würde, dass Lehrer ja im Grunde nichts weiter sind als Unteroffiziere einer Strafanstalt, und diese Bösartigkeit sitzt wie ein Stachel in den Eingeweiden des einen, dann könnte man das Bluttwasser, mit dem Schweiß, den die Schüler in der Reifeprüfung vergießen, vergleichen, und die Grube, mit einem Grab, frei nach dem Satz von Hermes Phettberg, dem geborenen Josef Fenz: Wir sind alle schon tot, nur wissen wir es noch nicht. Und die Schüler, die das Ende der Schulzeit herbeisehnen, das Ende der Knechtschaft, die Freiheit vor Augen, fehlt die Information, was auf sie wartet. Und weil die Schule eine Vorfeldorganisation des Systems K. ist, macht man die Schüler auch nicht darauf aufmerksam, dass hinter dem letzten Tor, vor dem der Torwächter steht, nicht die Welt wartet, sondern ein Sterben im Dienste des Mehrwertes. Und am Ende, wenn sie dann im Krankenbett liegen, die Hände ausgestreckt zum Gebet, um die letzte aller Fragen zu stellen, dann wird der Torwächter ihnen die Antwort Kafkas geben, dass es keinen Einlass für sie geben wird. Weil sie immer nur gedient haben, nie widersprochen, sich nie gewehrt und nie revoltiert haben, denn nur in der Revolte kann ein Mensch sich als Mensch fühlen und letztlich Einlass in ein Leben finden, dass jenseits des bloßen Überlebens erlebbar ist, denkt einer.

Und so verheddert sich einer in seinen Gedanken und findet nur schwer an den Ausgangspunkt seiner Fahrten durch die aussickernde Nacht zurück. Zu dem Andererseits, was ein Schüler neben Kundschaft und Teil der Reservearmme des Systems K. noch sein könnte, nämlich Teil des Volkes. Dreh und Angelpunkt allen Wirkens und Handelns des Machtappartes einer Schule, denn die Schüler sind es am Ende des Tages, die sich den Entscheidungen des Lehrerkollektives beugen müssen, die von deren Abnickungsverhalten betroffen sind, die Suppe auslöffeln müssen, die ihnen andere eingebrockt haben. Und sie sind es auch, über die der Lehrkörper, der Woche für Woche in den Konferenzen herumlungert, Macht ausüben darf, ungesehen, unbeobachtet, und in unerhörter Weise.

Natürlich hört man das Volk manchmal an. An den guten Tagen lässt man die Schüler und ihre Vertreter an den Schaltstellen des Organischen gewähren, wo chirurgische Eingriff in die Kommandostrukturen keinen Schaden anrichten können, wo die Kette nicht reißen kann, weil sie fest geschmiedet ist, und das Volk der Schmiedarbeit nichts anhaben kann, wo Partizipation kein Aufsehen erregt und auch nicht weiter ins Gewicht fällt.

Noch so ein Etikettenschwindel, wie einer denkt, denn was sich hier als Demokratie tarnt, ist doch nichts weiter als politische Armenspeisung, ein Rechtsanspruch ohne Gesetzgebungsgewalt, denn die Gewalt in einer Schule geht nicht vom Volke aus, wie man die Herrschaft in einer Demokratie leichtfertig nennt, denn nichts weiter bedeutet demokratisches Handeln: Volksherrschaft. Doch die Schule ist eine Diktatur. Dort geht das Recht von der Spitze aus und diese ist von Ministersgnaden eingesetzt. Im Land des einen herrscht eine Ministerialbürokratie über das Volk wie zu kaisers Zeiten, als Gott noch das Sagen im Land hatte. Und die Jesuiten hätten ihre Freude, denkt einer, wenn sie, die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts ihr erstes Gymansium gründeten, erfahren würden, dass ihr Gedankengut und ihre Bildungskolonisierung heute noch fröhliche Urständ feiert.

Die Saat der religiösen Brut, die sich aus dem Mittelalter in die Neuzeit gerettet hat und an allen Ecken des Staates wie ein Krebsgeschwür wuchert, ist aufgegangen, der Religionsunterricht ist sacrosankt geworden, unantastbar sind die Stunden, in denen dem Volk das Gift gegen die Aufklärung injiziert wird. Niemand wagt sie einzuschränken oder gar aus dem Schulwesen zu entfernen. Und so ist jede Lehrergeneration gezwungen, die Fehler ihrer Lehrerahnen zu wiederholen.

[Frontarchiv] | blättern | [Februar 2025]