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20.200.930:2.141
Wie habe ich es vermisst, in der Beständigkeit der Tage zu leben, wie einer der Abschied nimmt, einen Schritt vor den anderen setzt. [zum Eintrag]

20.200.929:0.7628
Im Norden meines Lebens werde ich die letzten Jahre dienen, mich ableben und aushauchen und wär doch liebend gern im Süden frei. [zum Eintrag]

20.200.928:1.322
Erster Schnee. In der Kindheit Verheißung. Auf meine alten Tage mehr Drohung als Versprechen. Einst ein wundersames Licht, nachts bei Spaziergängen in heimischen Wäldern. Die Kristalle barsten bei jedem Schritt und ihr eisiges Zirpen vertrieb die Einsmakeit. [zum Eintrag]

20.200.927:0.835
Seit ich denken kann, lebe ich im Widerspruch zur Welt und schreibe mich immer wieder aus ihm heraus. Manchmal entwickelt sich daraus auch eine Form des Widerstandes. Dort aber, wo der Widerspruch sich in Zustimmung wandelt, endet mein Schreiben. Warum dem so ist, kann ich nicht sagen. Es war immer schon so. Von Kindheit an befand ich mich in Opposition zur Welt. [zum Eintrag]

20.200.925:0.623
Als ich dieses Journal zu schreiben begann, dachte ich nicht, dass ich so lange durchhalten würde. Die Angst davor, mich zu wiederholen, steht bei jedem Eintrag im Raum. Und schließlich bin ich ja nicht mit einer Krankheit ausgestattet worden, die zu meinem vorzeitigen Ableben führen wird, einer Krankheit, die wie bei Herrndorf zum Verlust der Sprache führte, in die Verzweiflung und in Spaziergänge, auf denen man noch etwas findet, aber doch schon mitschwingt, dass es irgendwann kein Finden mehr gibt. [zum Eintrag]

20.200.924:0.528
Wir stehen unseren Mann. [zum Eintrag]

20.200.923:0.541
Aus den Bildern muss jede Menschlichkeit getilgt werden. Nichts soll bleiben. Keine Liebe und keine Furcht, denn die Vernunft versickert in den Volksempfängern wie der träge Regen in den Tropen zwischen Orchideen. [zum Eintrag]

20.200.922:0.829
Jetzt da alle erwachen aus ihren traumlosen Ängsten, werden sie Tage kürzer. Die Schatten länger. Alles fällt. Nur der Nebel steigt aus den Seen auf. Endlich, sagen die Menschen. Atmen auf. Und der Tod kümmert sich wieder um das alltägliche Sterben. [zum Eintrag]

20.200.921:0.555
Ein Kollege hat mir letztens zugeraunt, dass er folgenden Satz besonders schrecklich fände: Jeder Traum endet einmal. Der Kanzler, der Republik, in der ich lebe, habe ihn offenbar schon mehrmals benutzt. Für einen engagierten Lehrer wie ihn muss dieser Satz wie ein Schlag ins Gesicht sein, denn junge Menschen haben noch Träume und in dem Versuch diese zu verwirklichen, will er sie unterstützen. [zum Eintrag]

20.200.920:2.222
Ein Abgesang auf bessere Zeiten. Selbst die Kinder sind in die Jahre gekommen. Enkelkinder rar. Mütter. Väter. Onkel. Tanten. Schlendernde Schritte. Ein leichtes Schleifen der Schuhe auf glattem Grund. Alternde Fratzen. Unglück eingezeichnet in jede kleine Furche. [zum Eintrag]

20.200.918:1.308
An Zufälle zu glauben, fällt mir schwer, auch wenn ich weiß, dass es in der Geschichte nicht viele Zwangsläufigkeiten gibt. Aber es ist doch bemerkenswert, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der Mann, der es führt, nicht nur Abkömmling deutscher Einwander*innen und damit der weißen Minderheit im Lande ist, sondern auch ein Immobilienmakler. [zum Eintrag]

20.200.916:0.653
Noch einmal der Roman von Werner Rohner: Was möglich ist. Mich fasziniert Rohners Schreiben. Ich will ihm auf die Spur kommen. So wie ich schon Sascha Garzetti auf die Spur kommen wollte, der in seiner Lyrik die Erscheinungen der Welt in wenigen Worten fassen kann. [zum Eintrag]

20.200.914:0.527
Es gibt einen Spruch, den ich häufig höre, wenn ich ein Anliegen vorbringe, in dem es um arbeitsrechtliche Fragestellungen geht, um gerechte Forderungen: Das war als wir begonnen haben auch nicht anders. Jeder von uns muss Dinge akzeptieren, die ihm nicht gefallen. Das war immer schon so. Derartige Sätze legen nahe, dass eine Ungerechtigkeit besser wird, weil sie andere auch trifft oder getroffen hat. [zum Eintrag]

20.200.913:0.826
Ich bin mir nicht sicher, ob ich der Stille meines Alters gewachsen sein werde, wenn der Herbst in mein Herz einzieht. Allüberall hat das Dahinsiechen der Vergessenen längst begonnen. Und die Krankheiten, an denen einer wie ich sterben kann, und mit mir die Mitglieder meiner Kohorote, sind vielfältig, wie das Leben, das wir hinter uns gelassen haben. [zum Eintrag]

20.200.912:0.820
Der Titel von Werner Rohners neuem Roman – Was möglich ist – ist ein hoffnungsvolles Programm für unsere Tage. Und es beginnt schon schwunghaft mit der Vision, dass selbst in fortgeschrittenem Alter ein Neubeginn möglich ist. [zum Eintrag]

20.200.911:0.707
Kann ich den Zynismus in den Worten mancher Politiker besser hören oder sind ihre Aussagen zynischer geworden als früher. Wagen sie wieder mehr an ideologischer Verrohung, weil wir Bürger*innen nicht mehr wachsam genug sind, hat unser Spürsinn für Unrecht abgenommen. [zum Eintrag]

20.200.910:0.653
Wie groß muss die Verzweiflung der Menschen sein, wenn sie ein Feuer bejubeln, dass nachts ausbricht und sich über ihre Zelte und Planen, über ihr letztes Hab und Gut hermacht, um alles auszulöschen, was übrig war, nach ihrer Flucht. Was sind wir für ein Land, was sind wir für Menschen, dass wir nichts unternehmen, diesen Jubel zu beenden, das flüchtende Volk aus aller Welt nicht behausen und nähren. [zum Eintrag]

20.200.909:0.802
Der Kapitalismus und seine Jagdgesellschaften verwüsten Länder und zerstören Menschen und keiner eilt zu Hilfe. Argentinien in den neunziger Jahren, Griechenland am Beginn des Jahrhunderts und nun Amerika, Brasilien, Syrien. Die Interessen der Kapitalist*innen werden von der europäischen Politik verteidigt, immer, als wären es ihre eigenen. [zum Eintrag]

20.200.908:0.717
Seit meiner frühesten Jugend dachte ich, dass aus mir ein bedeutender Schriftsteller werden könnte. Einer, nach dessen Fragen sich das Publikum verzehrt und vielleicht noch mehr nach seinen Antworten. Einer, der sein Epoche durch seine Texte verdaut und sie dann dem Markt vor die Füße spuckt. Einer, der in der Lage ist, Texte zu schreiben, von unfassbarer Eleganz und Präzision. [zum Eintrag]

20.200.907:0.756
Was früher ein April war, ist heute ein Mai. Der Sommer wirft sich früher als gewohnt über die Landschaft. Treibt den Bäumen die Blüten aus den Knospen, liefert sie dem letzten Frost aus. Der See glitzert als wär schon Hochsaison. [zum Eintrag]

20.200.905:0.810
Auf der Suche nach seinem Stein, an dem er rasten könnte, hat er die halbe Welt bereist. Gefunden hat er Bänke, Stege und Kaffeehäuser. Aber nicht seinen Stein. [zum Eintrag]

20.200.903:0.929
Das Sterben hat begonnen. Sie heben Gräber aus. Auf Vorrat. Jetzt muss es rasch gehen. Die Toten werden hinausgekarrt. An den Stadtrand, wo früher die Krähen zwischen den Weinreben nisteteten. Ein Konvoi des Todes und kein Totenvogel, der ihn über Land begleitet. [zum Eintrag]

20.200.902:1.913
Ich bin kein guter Mensch. Ich bin nicht bereit auf meinen Luxus zu verzichten, bevor nicht Jeff Bezos bereit ist, seine Mitarbeiter*innen besser zu behandeln. Auf mein feuchtes Klopapier will ich nicht verzichten. [zum Eintrag]

20.200.901:0.814
Die Misere der heutigen Literatur ist, dass sie dem Markt nichts mehr entgegensetzt, sondern den Markt, die Gesellschaft, unser Leben nur noch abbildet. Die Welt, wie sie ist, nur mehr beschreibt und nicht mehr interpretiert. [zum Eintrag]

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