20.221.030:1.433 Zum Archiv

Wenn die Sprache tatsächlich die Grundlage und Vorbedingung menschlichen Handelns sein sollte, weil die Sprache Denken repräsentiert, dann wäre die Weise wie wir sprechen die Bedingung für unsere Form der Menschlichkeit. Freundliches Sprechen würde freundliches Handeln nach sich ziehen. Ein herrschaftsfreies Sprechen würde eine egalitätere Gesellschaft hervorbringen. Und ein präzises Sprechen vielleicht Missverständnisse minimieren.


20.221.026:0.943 Zum Archiv

Vor ein paar Tagen habe ich postuliert, es gäbe vier Triebkräfte der Geschichte, die das Individuum zum kollektiven Handeln verdammen: Biologie, Religion, Politik und Technologie. Dagegen werden einige mit Recht einwenden, was ist mit den Genderfragen, der Ökonomie, den Herrschaftsverhältnissen? Denen antworte ich, sie sind nachgeordnete Probelmstellungen, die sich aus dem Handeln der Menschen in Bezug auf die vier Triebkräfte der Geschichte ableiten.

Und der zweite Einwand: Ist nicht Triebkraft selbst schon eine biologische Kategorie? Natürlich ist Trieb eine biologische Grundlage menschlicher Existenz und das zu leugnen, wäre nicht nur widersinnig, sondern ginge am Wesen des Menschen vorbei. Selbst aus historischer Sicht, ist der Mensch anthropologisch ein Naturwesen, jedoch mit der Möglichkeit ausgestattet, diese seine Natur zu überwinden, in dem er eine Gesellschaft hervorbringt, die in ihrem Kern nicht mehr nach biologischen, also natürlichen Grundsätzen funktioniert, sondern technolgisch. Damit wäre Günther Anders These zu folgen, dass das Wesen des aus der Natur hervorgegangenen Menschen sein Künstlichkeit sei, denn nichts anderes heißt "Techne", nämlich Kunst oder sprachlich angepasst im Deutschen "Technik".

Wenn in der Geschichte aber Kräfte am Werk sind, die den Menschen zwingen, sich zu Kolletiven zusammenzuschließen, dann besteht die Dialektik der Aufklärung darin, dass die Entwicklung einer technologischen Gesellschaft einerseits das Kollektiv, also in seiner Organisationsform die bürgerlichen Freiheiten, aufheben muss, um die Technik zu befördern, also die künstlerische Umgestaltung der Natur in Kultur, und gleichzeitig die bürgerliche Freiheit des Individuums feiern muss, um die Kreativität des Einzelnen freizusetzen, damit die technologische Entwicklung vorangetrieben werden kann. Dies würde auch die derzeitig gegensätzlichen politischen Verhältnisse nicht nur in Europa, sonderna uch in China widerspiegeln.

Und das Auseinanderbrechen unserer europäischen Gesellschaften fördert diese, oft vergessene, Dialektik der Aufklärung in besonderer Weise zu Tage. Auf der einen Seite suchen wir die Sicherheit des Kollektivs und seiner Herrschaftsinstrumente, auf der anderen Seite wollen wir von diesen Herrschaftsinstrumenten als Individuum nicht in unserer persönlichen Freiheit eingeschränkt werden. Wir wollen alles und jedes zu jederzeit und allüberall zur Befriedigung unserer eigenen Interessen und Bedürfnisse zur Verfügung haben, jedoch die Zerstörung der kollektiven Gemeinschaftsstrukturen, die damit einhergehen, wollen wir nicht in Kauf nehmen. Diesem Widerspruch, der ja nicht zuletzt ein moralisches Dilemma ist, scheint das bürgerliche Individuum nicht gewachsen zu sein und droht daran zu zerbrechen und mit ihm auch jene Errungenschaften, die durch die Aufklärung in die Welt gebracht wurden.


20.221.025:1.726 Zum Archiv

Das Zentrum ihres Wohnraumes bildete nicht wie in vielen Haushalten ein Monitor, sondern ein großer Tisch, der zu vielfältigem Gebrauch einlud und für jede Form des Spiels geeignet war. Das Fernsehgerät hatte irgendwann sein Leben ausgehaucht, worauf lange Diskussionen folgten, ob ein neues erworben werden sollte. Stundenlang hielten sie sich in Fachmärkten auf, um das richtige Gerät zu finden. Aber keines passte so recht zu ihnen. Das eine war zu teuer, das andere zu groß, ein weiteres zu klein. Irgendwann war die Suche wichtiger geworden, als das Gerät selbst und verzichteten sie auf die Neuanschaffung eines neuen Gerätes. Seither hatten sie kein Fernsehgerät mehr, keinen Monitor, kein modernes Lagerfeuer, um dessen Mitte sie sich abends versammeln konnten.

Mit dem Verlust des Fernsehers verließen auch andere Geräte, die an diesem hingen, wie die Trauben an der Rebe, ihren gemeinsamen Haushalt. Der freiwerdende Raum wurde mit Pflanzen gefüllt und an der Wand hing nun ein Bild von Turner. William. Sonnenuntergang über einem See. Keine flimmernde Bewegung, wie auf einem Monitor, kein bloßes Abbild der Wirklichkeit wie bei einer Photographie, sondern ein Bild, das Realität vollkommen neu erschuf, ein Licht, welches das unabsehbare Sehnen und Wollen eines Menschen zum Leben erweckte.

Und im Lichte dieses Sonnenunterganges spielten sie ein Wortspiel, Buchstaben, die aneinandergereiht wurden. Ein Spiel, bei dem aus einzelnen Zeichen ein Spinnennetz an Bedeutungen wuchs. Im Hintergrund nur das Ticken der Uhr. Zwischendurch ein Oh! oder ein Das ist aber interessant. Mehr bedurfte es nicht an diesen Abenden. Und wenn eine von beiden ermüdete, erhob sie sich mit den Worten: Es ist Zeit, lass uns zu Bett gehen.

Und der andere folgte der einen.


20.221.020:1.920 Zum Archiv

Günther Anders hat einmal geschrieben, das Wesen des Menschen sei seine Künstlichkeit. Wenn dem so ist, und bisher hatte ich keinen Grund an dieser These zu zweifeln, dann kann der Mensch aber auch nicht Teil der Geschichte sein, sondern kann sich nur in Bezug zu der von ihm erzählten Geschichte setzen.

Das liest sich auf den ersten Blick recht banal, doch für die Geschichtswissenschaften hätte das weitreichende Konsequenzen. In meiner Erinnerung über das, was mir an Universitäten über Geschichte erzählt wurde, ist der Mensch Triebfeder seiner eigenen Entwicklung, das heißt, er macht Geschichte. Dem kann ich nicht mehr zustimmen, denn der Mensch ist unterschiedlichen Mechanismen ausgeliefert, die er zwar gestalten und sich aneignen kann, die er selbst sogar hervorruft, in dem er handelt, denen er aber als Individuum letztlich immer ausgeliefert bleibt.

Doch um das Individuum mache ich mir keine Gedanken, der und die Einzelne mussten sich immer schon durch die Tage schlagen, mit oder ohne Hilfe anderer. Interessanter ist vielmehr die Frage, wie entstehen Gesellschaften und was treibt sie an. Entlang dieser gesellschaftlichen Triebkräfte könnte man Geschichte ebenso schreiben, wie entlang von Genderfragen oder der sozialen Frage.

Aus diesen Überlegungen leiten sich vier Triebkräfte der Geschichte ab, die zur Kollektivierung von sozialen Prozessen führten: die Biologie, die Religion, die Politik und die Technologie. Jede dieser Kräfte treibt die Individuen an, sich zu Kollektiven zusammenzuschließen, um in einer Gemeinschaft die Lebensbedingungen des Einzelnen zu verbessern und das Überleben aller zu sichern und das Gemeinwesen zu entwickeln.


20.221.019:1.859 Zum Archiv

Was bleibt am Ende eines Lebens noch zu tun - nach einer vierzigjährigen schriftstellerischen und echolosen Existenz. Eine Dokumentationsoffensive starten. Einer wie ich, der wie ein Echoloser durch die Zeit treibt, muss nun am Ende doch noch selbst für seinen Nachlass sorgen. Ihn ordnen und dokumentieren. Auf viele wie mich trifft ein Satz von Ingeborg Bachmann sinngemäß zu: Das Leben eines Schriftsteller, der nicht als Schriftsteller gesehen wird, ist wie ein Leben im toten Trakt von Stammheim. Dort, wo die Verurteilten unter sich bleiben. Verbunden nur durch die Schwere ihrer Tat.

Nun, zum Terroristen hat es bei mir nie gereicht. Die Feigheit, die in meiner Boomerexistenz schon als Kind kultiviert wurde, hat verhindert den Unrechtsstaat zu stürzen. Kein Guerillakampf, große Reden wurden nur an den intellektuellen Stammtischen geschwungen und am Ende bleibt als einzige heroische Leistung meiner Zeit die Besetzung eines Auwaldes. Und nun am Ende bleibt mir im digitalen Zeitalter nur eines zu tun. In der Echokammer der Einsamkeit, wie ich nach Lust und Laune die digitale Welt gerne bezeichne, mein Leben zu dokumentieren: als unbrauchbar und digital.


20.221.018:1.612 Zum Archiv

Hans Mohr hatte sich eines Tages entschlossen, nach der Erfüllung seiner Lebenspflichten, nach seinen Reisen durch die Welt, sein Erspartes, das er am Wegrand des Lebens aufgelesen hatte, wie ein anderer Walderdbeeren, Himbeeren oder Brombeeren an Waldlichtungen pflückt, zur Hand zu nehmen und sich ein Haus zu kaufen.

Ein Haus in Himelzelten, das er seit seinen Kindertagen kannte, weil die Eltern in diesem Dorf urlaubten und es ein Stück Freiheit für ihn bedeutet hatte. Himelzelten, wo man den Menschen so nahe kommen konnte, wie man durfte, aber auch nur so nahe kommen musste, wie man wollte. Solange man sich nicht in die Belange der Einheimischen einmischte, wurde man nicht behelligt, denn in Himelzelten war man gewohnt, mit Fremden fröhlichen und ungezwungenen Umgang zu pflegen. Vor allem mit jenen, die sich nicht heimisch machen wollten, sondern nur eine Bleibe auf Zeit suchten.

Und Hans Mohr war einer, der lediglich eine Wohnstatt für den letzten Feierabend suchte. Ein Wort, das ihm schon immer gefallen hatte, denn es klang nach Freundlichkeit und Wohlbefinden, den Abend zu feiern, ein kommendes Ende und es schwang auch das Fest mit, die Geselligkeit unter Menschen nach getaner Arbeit.

Und so fühlte er sich nun auch, als wäre das Tagwerk vollbracht und die Stille in ihn eingekehrt und für diese Stille, die Beständigkeit der folgenden Tage, benötigte er ein passendes Quartier, in dem er unbehelligt leben konnte. Ein Fremder, dem man begegnet und den man kennt und vor dem man freundlich den Hut zieht, weil man weiß, er bleibt, wo er hingehört, bei sich.


20.221.008:1.856 Zum Archiv

In mir sind zahllose Erinnerungen aufgespart, die zu verblassen drohen, aber wozu sie aufschreiben, denke ich, wenn doch meine Welt mit meinem Ausscheiden verschwinden wird. Vielleicht gibt es einen Grund, einen persönliche Wunsch auf das historische Hintergrundrauschen, das mich mein Leben lang begleitete, zu reagieren, und für die Sozialwissenschaften aufzusparen, was gewesen war, denn über uns, die Generation der Vielen, wird es eines Tages an Material mangeln wird, wenn wir schweigen.

Als Historiker und auch als Germanist war ich immer auf diejenigen angwiesen, die gesprochen, die sich schreibend ausgeliefert haben und sich meist selbstlos preisgaben, ohne ökonomische Interessen, um mein soziales Kapital zu vermehren. Schon deshalb sollten wir künftigen Generationen das gleiche Geschenk machen und unsere Erinnerungen dokumentieren.


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