20.220.831:1.557 Zum Archiv

Trotz all meiner Geschwätzigkeit, ist es schwierig, über etwas zu schreiben, was man bereits wie seine Westentasche zu kennen glaubt.


20.220.830:1.437 Zum Archiv

Die Banalität des Dialoges ist die größte Gefahr beim Schreiben einer Erzählung. Seine Einfachheit muss im Kontext der Situation wirksam werden, nur dann kann er der Banalität entkommen und literarische Qualität entwickeln. Er darf auf keinen Fall bloße Verlegenheitslösung sein oder ein Übergangsinstrument. Sagt einer: Guten Tag!, dann muss er es auch meinen, die Begrüßung muss dramaturgischen Sinn ergeben und über den Moment hinaus auf eine zukünftige Handlung verweisen. Selbst im banalsten: Guten Morgen!, kündigt sich an, dass in ihm etwas Entscheidendes geschehen wird, was für den weiteren Fortgang der Handlung unerlässlich ist. Warum sollte einer denn sonst einen guten Morgen wünschen? Und übrigens: Nur weil ich selbst diesem Anspruch an den Dialog selten gerecht geworden bin, heißt das nicht, dass das eben Gesagte falsch sei. Es heißt nur, dass ich ein schlechter Erzähler bin.


20.220.829:1.027 Zum Archiv

Gestern noch festgestellt: Jeder Mensch geht anders. Da sind die im Gleichschritt marschierenden Paare, die Synchronschreiter. Diejenigen, die sich abmühen, miteinander ins Gespräch zu kommen und doch aneinander vorbeispazieren. Man könnte ein Buch über das Gehen der Menschen schreiben. Vermutungen darüber anstellen, welches Leben sich hinter dem Gehen eines Menschen verbirgt. Nicht die Kleidung enthüllt, was ein Mensch ist, sondern wie er durch die Welt schreitet und sie sich gehend aneignet. Gebückt. Aufrecht. Niedergedrückt. Leicht schwebend.

Und wie es biem Gehen unterschiedliche Typen gibt, gibt es diese natürlich auch beim Essen. Da sind die Blitzkriegesser, die alles in Windeseile vertilgen, was auf ihren Tellern landet. Oder die systematischen Esser, die sich die Teller am richtigen Platz des Tisches herrichten, den Pfefferstreuer gegen Osten richten und den Salzstreuer gegen Westen. Da wird geschoben und gezogen bis alles im richtigen Gleichgewicht ist, bevor auch nur eine Gabelspitze das Fleisch berührt. Und es gibt die Chaoten, die sich regelrecht durch die Nahrung wühlen, um am Ende die Reste zu missachten, die sie am Tellerrand zurücklassen. Die Losung müsste also lauten: Zeig mir wie du isst und ich sag dir, wer du bist.


20.220.828:0.832 Zum Archiv

Das Meer hat mich empfangen, wie zu erwarten war. Ein Glitzern, das mir mehr bedeutet, als der Schnee hinterm Haus, im Januar, wenn das Licht der Wintersonne sich am erkalteten eisigen Wasser bricht. Wolkentürme im Westen, aus denen Blitze schlagen und vom nahenden Regen künden. Und über allem ein Wind, der leicht ist, eine Brise, wie der Sommer selbst.

Und meine Sehnsucht, die ich seit Jahren hege, was sage ich, seit Jahrzehnten, wird schon mt dem ersten Blick gestillt. Etwas kommt augenblicklich in mir zur Ruhe, wie vor vier Jahrzehnten, als ich das erste Mal ans Meer reiste, nach dem Erreichen meiner Bildungsreife. Es ist ein Gefühl der Auszeit vom Leben. Am Meer steht das Leben still, für einen wie mich, der dorthin reist, ohne Pflicht und ohne Not, urlaubt am Strand. Schon Konstantin sang einst: Ich lebe immer am Strand.

Gerade weil ich am Meer nicht nach Einkommen suche, sondern nach einem Auskommen mit der Zeit, ist es der Inbegriff der Stille, weil es stetig sich bewegt und ich an seiner Seite innehalten kann, wie der eine Teil eines alten Ehepaares, der sich im anderen einglebt hat, der unvoreingenommen meine Marotten gelten lässt. Und an der Brandung erkenne ich ein Stück von mir selbst, das einem kindlichen Schauen gleicht, als die Welt noch offen war und die Wege noch in alle Richtungen wiesen und heute lausche ich auf das Echo von damals, das mein längst verklungenes Rufen in verwandelter Form zurückwirft.


20.220.827:0.430 Zum Archiv

Heute fahre ich ans Meer. In den Süden. Über die Berge. Am Rande zum Herbst. Jetzt, da die ersten Blätter sich an ihrem Sterben berauschen und taumelnd durch den leichten Wind ins Tal reißaus nehmen und sich selbst aus meinen Wäldern die Trockenheit zurückzieht, ist es an der Zeit, in den späten adriatischen Sommer zu reisen, um noch einmal die Sehnsucht nach der prallen Sonne, dem weiten Horizont, dem ausufernden Wasser und der gleichförmigen Beständigkeit der Tage zu stillen.


20.220.823:0.818 Zum Archiv

ich habe sehnsucht
nach einem herbst


der mich ergreift
(den ich einen ewigen nenne) und
der mich unbekümmert leben lässt
gleich einem kind
in frühen tagen

ich habe sehnsucht
nach einem herbst


der wie ein morgen
im september in mir
nachklingt als hätte nd
ihn nur für mich besungen

ich habe sehnsucht
nach einem herbst


der nicht weiterhin
von den geschäftigen
heimgesucht wird
der voller stille ist
und für gerechtes sorgt
in (m)einer welt
die von jeher
in aufruhr ist

ich habe sehnsucht
nach einem herbst


der sich wie oktoberlaub
auf und über die erde wirft
in dem die eltern anstatt sich
um ihre kinder stetig sorgen
sie von der leine lassen

ich habe sehnsucht
nach einem herbst


in dem die natur
wie ein sterbender
sich zurückzieht bevor
es letztlich nacht wird
und frischer wind übers land zieht

ich habe sehnsucht
nach einem herbst


der nicht zu spät kommt
sondern zur rechten zeit
in dem die geschäftigkeit
mich nicht mehr anrührt
(und ich unerkannt
durch wilde wälder streune)

ich habe sehnsucht
nach einem herbst


in dem das morgen
dem heute gleicht
und sich das gestern
einfach von mir ablöst
wie die leere hülle

eines längst vorausgegangenen


20.220.822:0.833 Zum Archiv

Einst zeriss das Z seine Fesseln und stahl sich aus den Wörterbüchern, Lexika und Geschichten davon. Fortan vagabundierte es durch die Welt und manchmal, bei genauem Hinsehen, konnte man es noch entdecken, wenn zwischen zwei Zwetschkenbaumzweigen zornige Zeisige zeterten.

Gleichzeitig war aber aus den Zeitungen und Zeitschriften, aus Publikationen aller Zeiten, dieser bis dahin wenig beachtete Buchstabe verschwunden. Der Grund ist an einem Beispiel leicht zu zeigen: Aus einem zerflossenen Eis wurde ein erflossenes Eis. Menschen begannen über solch seltsam anmutenden Sätze und ihre Bedeutung zu rätseln. Anfangs konnte von den sachkundigen Leser*innen durchaus noch der Sinn erschlossen werden, doch mehr und mehr schlichen sich Missverständnisse in der Kommunikation der Menschen ein. Und so vermieden sie das Z zu schreiben. Und irgendwann verschwand es auch aus der gesprochenen Sprache.

Doch dies blieb nicht ohne Folgen, denn eines Tages war es zur Gänze aus dem Alphabeth getilgt und mit ihm der Zeisig und der Zwergzwetschkenbaum, denn wer hätte denn noch einen Satz verstehen können, der da lautete: wischn wei wergwetschkenbaumweigen etern ornige eisige. Das Verschwinden des Z war also derart absolut und endgültig, dass fortan weder Zeisige noch Zwergzwetschkenbäume in der Welt zu finden waren, aber auch die Zitronenfalter starben aus, aber eben auch der Zorn und das Zetern.


20.220.821:0.907 Zum Archiv

Hätte ich in den historischen Geschichtswissenschaften Diskursmacht, einen Lehrstuhl, eine Assistentenstelle oder auch nur Zugriff auf die jährlich an den Universitäten einrückenden Kohorten von Studierenden, würde ich mich nicht mehr mit der Geschichte europäischer Prägung beschäftigen, die sich nach den Epochen euroamerikaischer Vergangenheiten richtet, die mindestens so überholt sind, wie der Versuch Geschichte als objektive Wissenschaft zu postulieren.

Ich würde eine Geschichte schreiben, die sich nicht aus einer europäischen Perspektive der Welt nähert, auch wenn alles, was je in dieser Hinsicht aus meiner Tastatur strömt, eine europäische Perspektive ist, denn nichts anderes bin ich, ein Europäer. Ich würde mich also aus einer historischen Perspektive der Welt nähern und ernst nehmen, was Geschichte im Kern bedeutet, die Erforschung der Welt in ihren zeitlichen und geographischen Zusammenhängen, als Ablauf geschichtlicher Phasen, die Menschen in unterschiedlichen Gesellschaften durchleben.


20.220.719:0.820 Zum Archiv

es sind nicht die stäbe
die die welt im kern
zusammenhalten

die bei rilke
alles vorantreiben
wenn das leben still steht

auch nicht das herz
(das zweifelnde
in uns)


sondern das unhaltbare
das zu halten
uns verwehrt ist

lässt den einsamen
(sorgenvoll zurück)
wenn der vorhang fällt


20.220.815:1.527 Zum Archiv

Wenn die Schule nicht den Losungen der Aufklärung folgt, das einzige, was man einer Schule zu gute halten kann, was bleibt dann noch von ihr als Existenzberechtigung übrig. Sie verkommt dann zur bloßen Bürokratie. Das nackte und kalte Skelett einer Verwaltungseinheit tritt zu Tage. Eine Verwaltung, die nicht mehr den Regeln pädagogisch-methodischen Denkens folgt, sondern institutionellen Notwendigkeiten gehorcht.

Eine Schule, die der Aufklärung verpflichtet ist, hat immer ein Ziel fest im Blick, Schüler*innen zu helfen mündige und mutige, selbstdenkende und selbstkritische Bürger*innen zu werden, und nicht Lehrer*innen zu geschützten Arbeitsplätzen zu verhelfen und gegen alle Widrigkeiten zu erhalten. Schule sollte die Schüler*innen ins Zentrum rücken, nicht die Sachzwänge ministerialer und schulischer Sachzwänge und Bürokratien.


20.220.809:1.647 Zum Archiv

Zwei Eigenheiten trennen den Menschen seit jeher und für alle Zeit von der Natur.
Erstens: Die Sprache und das damit zusammenhängende Selbstbewusstsein.
Zweitens: Die Fähigkeit ihre Sterblichkeit zu erkennen und im Bewusstsein des Todes das Leben als Frist zu verstehen.


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