20.250.126:0.910 Zum Archiv
Tage hat es gedauert bis ich über die Drohnenflüge über Gaza-Stadt schreiben konnte. Ich war mir nicht sicher, ob ich sollte, denn die Medien waren voll von Berichten über jene Menschen, die sich erdreisteten, an den Bombenangriffen Kritik zu üben, an der unverhohlenen Vertreibungspolitik. Nun aber blieb mir nichts anderes übrig, denn die Bilder lassen sich nicht beiseite schieben. Und ich habe nach Erinnerungen gesucht, die sich in mir abgelagert hatten, die mit dem Schock, den ich erlebte, als ich die Bilder der Drohnenkamera sah, vergleichbar gewesen wären.
Gefunden habe ich Dresden 1945, auf Bildern sieht man zerbombte Häuser, mehr Betongerippe als Behausungen. Doch die Bilder, die ich betrachtete, hatten keinen Subtext mitgeliefert, die Drohnenvideos allerdings waren mit einem journalistischen Text versehen: Die geflüchteten Menschen seien am Tag des Inkrafttretens des Waffenstillstands nach Norden losgezogen. Nach Hause, hieß es. Doch da stehen keine Häuser mehr. Zwischen den Ruinen schlängeln sich Wege, auf denen Menschen sich wie Ameisen bewegen, auf der Suche nach vermissten Angehörigen, die noch unter den Trümmern von ihnen vermutet werden. Und eine zweite noch viel schrecklichere Erinnerung steigt dann in mir hoch. Hiroshima 1945. Eine Landschaft ohne Stein und ohne Mensch. Alles verdampft.
Niemand von uns hätte wohl gedacht, dass wir achtzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wieder eine Landschaft zu sehen bekommen würden, die die Bestie im Menschen sichtbar macht. Was für ein Zorn, was für eine Wut muss sich in den Besatzern breit gemacht haben, nach dem Angriff auf die Bewohner an ihrer Grenze. Als vor mehr als einem Jahr bewaffnete Männer in Häuser eingedrungen sind, Zivilisten in Parkanlagen gepackt hatten, Festivals erstürmten und Autos kaperten, Menschen vor laufender Kamera exekutiert wurden, war ich schockiert. Ein Massaker vor laufender Kamera. Eine Propagandamaschine hatte ihren Zweck erfüllt. Die empörte und vernichtende Reaktion folgte auf den Fuß. Doch das Massaker der Hamas kann ja nicht alleiniger Auslöser für die Auslöschung eines gesamten Landstriches gewesen sein, für ein Dresden im Nahen Osten. Da muss ein tiefer, historischer Hass am Werken und Wirken sein, der die Nachfahren der einstigen Opfer der nationalsozialistischen Auslöschungspolitik in reißende Bestien verwandelt.
Und ich kann es nicht mehr ertragen, dass man jeden und jede, die anklagen, was unmenschlich ist, als Antisemiten denunziert. Dass das Sichtbarmachen eines Verbrechens, das zu Bildern wie in Dresden führt, eine antisemitische Haltung sein soll, nur weil der Staat, der die Bilder möglich gemacht hat, Israel sei, das leuchtet mir nicht ein. Das Sichtbarmachen der Bilder aus Hiroshima, bedeutet ja auch keinen Antiamerikanismus, sondern ist nur die hilflose Reaktion auf das, was uns aufgeklärten Menschen immer wieder als Schrecknis in der Welt begegnet, die Banalität des Bösen.
Doch banal ist das, was in den letzten Monaten geschehen ist, sicherlich nicht, denn es geschieht mit Duldung und Unterstützung der freien Welt, mit Duldung der europäischen Nationen. Das schlechte Gewissen, das bereits achtzig Jahre alt ist und vier Generationen in Atem hält, hat nun dafür gesorgt, dass einer wie Netanjahu wüten darf, im Namen einer gerechten Sache. Und gegen die Angriffe in Gaza darf man nichts sagen, eben genau aus dieser moralischen Erbsünde heraus, denn schließlich sagt man uns ja seit Monaten, es sei ein Akt der Selbstverteidigung, ein gerechter Gegenschlag. In der Urkaine hingegen darf man von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit sprechen, denn hier liege ja ein Angriffskrieg vor und kein Akt des Widerstands. Da sagt keiner: Oh, das sind ja antislawische Töne, das darf nicht sein. Da schlägt man dann mit gutem Grund auf den russischen Bären hin, der ein Volk überfällt und hinschlachtet, seit Jahren.
Das Tragische an der derzeitigen und an allen bisherigen historischen weltpolitischen Lagen ist, dass immer mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn es darum geht, die Feinde der Menschlichkeit anzuprangern. Da gibt es immer noch die guten und gerechten Kriege und die bösen und heimtükischen Massaker. Da gibt es die ungerechten und bestialischen Überfälle und die gerechte und am friedlichen Zusammenleben orientierte Vertreibungspolitik. Da gibt es die, die mutwillig einen Krieg vom Zaun brechen und die, die dabei nur den Frieden im Blick haben.
Ich aber sage, ein Massaker, ein Krieg, eine Auslöschung bleibt immer ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, egal von welcher ethnischen Gruppe, von welcher Klasse oder von welchem Geschlecht es verübt wird.
20.250.119:0.910 Zum Archiv
Die aufgeklärten Demokratien sind aus ihren Fugen geraten. Die von den europäischen Nationen entwickelte Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens hat sich von einem Sozialstaat in einen staatlichen Selbstbedienungsladen für jene verwandelt, die bereits im Besitz von neunzig Prozent des Gesamtvermögens sind. Die Reichen, wie wir sie heute euphemistisch, verharmlosend nennen, obwohl es doch Kapitalisten sind, haben alle sozialen und moralischen Hemmungen fallen gelassen. Sie sitzen in ihren aus Kapital gezimmerten Trutzburgen und steuern von ihren digitalen Endgeräten aus ihre Geschäfte und bedienen sich dabei schamlos und offen an unseren Volkswirtschaften. Unsere westlichen Demokratien verwandeln sich auf diese Weise Schritt für Schritt in demokratische Oligarchien.
Die Medien und das Volk empören sich wie selbstverständlich über die diktatorischen und autokratischen Oligarchien in der östlichen Hemisphere. Doch die Stimmen der Empörung sind zaghaft und zittrig, wenn sie versuchen, die westliche Lebensweise zu kritisieren, die sie für überlegen halten, auch wenn sie auf Ausbeutung und Zerstörung basiert. Doch anders als in Russland und in China streben die Oligarchen in den westlich-demokratisch organisierten Ländern nicht nach politischer Macht, um Parteiapparate zu stützen oder das Volk in ihrer Meinungsfreiheit zu beschränken oder gar geographische Hegemonialansprüche anzumelden. Nein, das alles ist ihnen gleichgültig. Die durch die Demokratie legitimierten Oligarchen haben die Politik und damit die Demokratie gekapert, um ihre Geschäftsinteressen zu erweitern und Geschäftsfelder auszuweiten, denn das Einzige, was bisher noch zwischen ihnen und der absoluten Profitmaximierung, einem auf Kapital basierenden Feudalismus bestand, waren die Aufklärung und das demokratische Rechtsstaatsprinzip.
Die Aufklärung, ist bereits in der Transformation der Wissensgesellschaft in eine Informationsgesellschaft verloren gegangen. Dieser Verlust ging der Aushöhlung des Rechtsstaates durch die Kapitalisten voran. Durch die Einführung der digitalen Medien (früher hat man soziale Medien dazu gesagt, was das Problem im Kern nicht einmal im Ansatz trifft) und die psychologische Abhängigkeit der Menschen davon, wurde die vierte Gewalt im Staat auf eine Hanswurstposition herabgestuft. News, oder wie sie im deutschen heißen, Nachrichten, sind mittlerweile nichts weiter als bessere Geschichtenerzählungen. Haben den Status von literarischen Texten erreicht. Sie haben den Charakter von Bibeltexten angenommen. Ihr Wahrheitsgehalt ist zweifelhaft. Niemand kann sich mehr darauf verlassen, ob eine News wahr oder fake also falsch ist, ob sie real oder erfunden ist. Aber verschwindet die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion in der Berichterstattung der Journalisten, oder was sich so nennt, dann verschwindet auch die Unterscheidung, ob die Welt, in der wir leben, real existiert oder einfach nur eine Erzählung ist. Und wenn die Welt Produkt einer Erzählung ist, dann ist in ihr alles möglich, dann wird jede Form des moralischen Handelns anzweifelbar. Und die Ausbeutung von Menschen steht dann auf der selben moralischen Stufe wie ihr Schutz vor Ausbeutung. Dann lautet die Losung unserer Gesellschaft von nun an: Everything goes! Alles ist möglich! Und worin diese Losung endet, können wir mit einem kurzen Blicke zurück in die Geschichte der Menschheit unschwer erkennen.
Und die Einführung der digitalen Medien durch die Techkonzerne, die allesamt in Händen der kapitalischen Oligarchen sind, dienen ja nur einem Zweck, das Rechtsstaatsprinzip zu unterlaufen, weil die Industrieoligarchen eben nicht gewählt sind und daher keinen unmittelbaren Zugriff auf die politisch legitimierte Macht, die wir heute noch Demokratie nennen, haben. Sie benötigen dafür die Politiker, denn die Techoligarchen, die Industrieoligarchen sind lediglich in der Lage mit Geld Politiker und ihre Macht zu kaufen, sich über die Hintertür in die Parlamente einzuschleichen. Damit wird aber ein wesentliches Element der liberalen Demokratie ausgeschaltet, nämlich die Gewaltenteilung. Hängen die Politik und damit das politische Handeln am Tropf der kapitalistisch agierenden Oligarchen, verwandelt sich zum Beispiel die Polizei in deren Handlanger. Da wird aus einem Freund und Helfer schnell ein Mitglied einer demokratisch legitimierten Schlägertruppe. Minderheitenschutz dient dann arbeitsmarktpolitischen Interessen. Sind Politiker erst einmal erpressbar, dann werden Gesetze verabschiedet, die den Interessen der Feudalkapitalisten in die Hände spielen. Dafür braucht man dann nicht einmal mehr eine Verfassungsmehrheit. Wir hätten dann zwar immer noch eine Demokratie, aber sie hätte sich dann aus einer durch die Aufklärung gestaltete sozial-liberale-ökologische Demokratie in eine ungehemmte und wild wuchernde vom Kapital getriebene verwandelt.
Und die Bürger. Ach, die Bürger und Bürgerinnen, denen ist ohnehin vieles mittlerweile gleichgültig. Sie haben sich seit dreißig Jahren an das Raubrittertum gewöhnt. An die Raubzüge der Fußtruppen, die die Oligarchen in alle Welt schicken, die so klingende Namen wie Wagner, Islamischer IS oder Ndrangheta tragen. Wir haben einen Punkt in unserer Gesellschaft erreicht, an dem die Beobachtung von Marx und Engels aus dem Revolutionsjahr von Achtzehnhundertachtundvierzig wieder Gültigkeit erlangt hat, jene Passage aus dem Kommunistischen Manifest, die da lautet: Die Bourgeoisie [Das Bürgertum] hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
20.250.111:1.021 Zum Archiv
Einen Satz gehört, der mich seit Tagen beschäftigt. Er lautete folgendermaßen: Der nächste Vollmond wird am dreizehnten Jänner erwartet. Hängen geblieben sind meine Gedanken an dem Wort erwartet, im Zusammenhang mit dem Erscheinen des Vollmondes am dreizehnten Januar des Jahres Zweitausendfünfundzwanzig. Erwartung beinhaltet meines Erachtens, dass ein Ereignis möglicherweise Eintritt, es impliziert keine Gewissheit, sondern es bleibt ein unbenennbares Maß an Unsicherheit erhalten. Zum Beispiel: Ich erwarte meinen Besuch um sechzehn Uhr. Ja, offensichtlich habe ich mir mit irgendjemand ausgemacht, er komme um sechzehn Uhr bei mir vorbei oder wir träfen uns im Kaffeehaus. Der Grund dafür ist unerheblich. Also warte ich auf ihn. Erwarte ihn. Doch was, wenn er einen Unfall hätte oder in der Zeit vor dem erwarteten Eintreffen stürbe, dann käme er ja niemals im Kaffeehaus an, selbst wenn er es sich vorgenommen hätte. Also würde ich völlig sinnlos weiter auf ihn warten. Aber: So ist das Leben nun einmal.
Dennoch: Ein Treffen zwischen zwei Freunden, Bekannten oder Geschäftspartnern ist ja etwas soziales, also im Rückblick oder in der Vorausschau etwas Historisches, doch in Erwartung des Mondes zu sein, ist etwas völlig anderes, wie ich denke. Den Mond bloß zu erwarten, würde ja voraussetzen, dass wir keine Gewissheit über den Eintritt des Mondes ins seinen vollen Zustand an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Uhrzeit hätten. An dieser Stelle ist der Konjunktiv jedoch nicht angebracht, denn den Eintritt des Mondes in seinen vollen Zustand können wir berechnen, wir können ihn vorausberechnen, völlig im Gegensatz zu unabsehbaren Folgen, die das Leben hat.
Es gibt wenige Dinge, die den Mond davon abhalten könnten, voll zu werden. Es müssten Ausmaße einer kosmischen Katastrophe sein, die zu einer völligen Vernichtung des Mondes und damit der Erde beitragen würde. In historischer Dimension würde das bedeuten, dass die beiden Freunde sich nicht um sechzehn Uhr im Kaffehaus träfen. Sie verschwänden mit dem unerwarteten Nichteintrtitt des Mondes in seinen vollen Zustand aus der Geschichte, augenblicklich und für alle Zeiten.
Ich wünschte, der Radiojournalist hätte sich präziser ausgedrückt und festgehalten, dass der Mond am dreizehnten Jänner als Vollmond am Himmel erscheinen wird. Ich wünschte er hätte das Konjunktivistische, das im Wort erwarten enthalten ist, vermieden. Auf diese Art und Weise treiben die Medien den Verlust der Präzision menschlicher Kommunikation, die ich in den sprachlichen Möglichkeiten verbrigt, Tag für Tag voran. Vor allem das Elend des Verbes, das dadurch begründet ist, dass es immer häufiger in Kontexten erscheint, in Handlungsvorgängen, für die es nicht geschaffen wurde. Diese Präzisionslosigkeit führt letztlich zu jenen Problemen in der Welt, von denen wir behaupten, sie seien politischer Natur. Nein, das Missverständliche in unserer Zeit ist ein spachliches Phänomen. Und als solches können wir es nur lösen, wenn wir zurückkehren zu dem, was uns das siebzehnte Jahrhundert gelehrt hat, dem Cogito ergo sum, zu dem Ich denke, also bin ich.
Und mein Sein des Denkens, davon bin ich überzeugt, wird nur durch Sprache sichtbar. Kurz gesagt: Wer spricht, zeigt, wie er denkt und was er meint und letztlich was er bereit wäre als Konsequenz seines Sagens auch zu tun.
20.250.105:1.636 Zum Archiv
Jedes Jahr frage ich mich aufs Neue, ob es Sinn macht noch einen weiteren Eintrag zu tätigen. Mit jedem Jahr, den ich mein Journal führe, besteht die Gefahr, mich zu wiederholen. Worüber soll ich denn noch schreiben. Über das Altern. Ja, das würde sich lohnen. Ein Boomer, der sich aufmacht, in Rente zu gehen. Was bewegt einen Menschen an der Schwelle zu den letzten Dingen.
Aber: Ich könnte auch schreiben, über das, was Gewesen ist. Einträge mit den Worten beginnen: Es war einmal. Märchen erzählen, wie es gewesen sein könnte, damals im zwanzigsten Jahrhundert, als es noch keine Fernseher gab, keine Smartphones, keine Computer. Satelliten mehr Science Fiction waren, als reale Sterne am Himmel über uns. Schreiben könnte ich über eine Kindheit im Schnee. Über eine Sechsundechzigquadratmeterwohnung mit grünen und braunen Siebzigerjahretapetenmustern an den Wänden, die vielleicht auch Ursache aller meiner psychischen Probleme darstellen.
Ja, vielleicht werde ich Eswareinmalgeschichten schreiben.
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