20.230.124:0.516 Zum Archiv

Das Schlimmste am alt werden, ist meines Erachtens nicht der körperliche Verfall, der mich bereits ergriffen hat und rasch voranschreitet, dem Tod vorauseilt, als wolle er ihn aufhalten, ihn bannen, ihm entkommen. Nein, das Schlimmste ist von heute aus gemessen, die ewige Wiederkehr des bereits Dagewesenen.


20.230.122:0.959 Zum Archiv

Ja, was ist zu tun? Vor allem für Lehrer*innen? Wie soll man Schüler*innen unterrichten, die niemals gelernt haben, an Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen, mitzuwirken? Schüler*innen, die gewohnt sind, nichts weiter als lernende Marionett*innen zu sein, die vor den Herrschenden mehr Angst haben als vor der eigenen Courage und ihren eigenen mächtigen kollektiven Möglichkeiten. Wie soll man Schüler*innen von einer Welt ohne Herrschaft berichten, die den Unterschied zwischen Macht und Herrschaft gar nicht kennen? Die sich selbst lediglich als Individuen begreifen und sich nur insoferne als Teil eines Kollektives sehen, als sie das Kollektiv der Schüler*innen als eine Schicksalsgemeinschaft begreifen, als zeitlich begrenzte Gefangenschaft, aus der nur der Schulabschluss sie befreien wird?

Was kann es denn bedeuten, als Lehrer*in anarchistisch zu denken, geschweige denn anarchistisch zu handeln, in einer Zeit, da die Kollektive ihre Bedeutung und ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt haben? In einer Gesellschaft, die die Freiheit des Individuums feiert, ohne zu bedenken, dass ein Individuum, das sich keinem politisch handelnden und denkenden Kollektiv zugehörig fühlt, der Unterwerfung unter die Herrschaft anderer preisgegeben ist.

Ist ein*e Lehrer*in, der/die in einer repressiven und ausgrenzenden, herrschaftsorientierten Gesellschaft anarchistisch denkt, aber kleinbürgerlich handelt, ein Feigling? Wahrscheinlich. Aber führt nicht anarchistisches Handeln in einer repressiven Gesellschaft automatisch in die Selbstzerstörung, in die Isolation. Wäre ein solches Handeln gut für die eigene Psychohygiene? Wahrscheinlich. Aber wäre es nützlich für die, die diesem System ausgeliefert sind? Zum Beispiel Schüler*innen. Wohl kaum.

Zu unterscheiden wäre für mich also, anarchistisch zu leben, am Rande, in einem geschützten Kollektiv, sich rauszuhalten aus dem Staat und Propaganda zu betreiben oder sich in den Sturm zu werfen, sich der Herrschaft auszusetzen und sie dort zu packen, wo sie einem begegnet, an der Wurzel, bei den Staatsorganen. Wir müssen die Herrschaft untergraben, vorsichtig und klug, sie in Frage stellen, wo immer sie sich zeigt und die eigene Herrschaft, wo sie sichtbar wird, thematisieren, aber nicht in geschützten philosophischen Werkstätten, sondern täglich an der Front, dort wo die künftigen Herrscher*innen ausgebildet und geformt werden, in den Kindergärten, den Schulen, an den Universitäten.


20.230.107:0.905 Zum Archiv

Bakunin schrieb, er sei ein überzeugter Anhänger ökonomischer und sozialer Gleichheit, denn er wüsste, dass außerhalb dieser Gleichheit die Werte der Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Moral und des Wohls der Individuen sich in ihr Gegenteil verkehren. Aber da er gleichzeitig ein Anhänger der Freiheit, der Grundvoraussetzung menschlichen Seins war, glaubte er auch, dass die Gleichheit in der Welt etabliert werden sollte durch freie Organisation von Produzentenvereinigungen in Kommunen und die freie Föderation von Kommunen - nicht aber durch die schützende Hand des als Vormund agierenden Staates. Aber bis Menschen in diese Situation kommen, sind sie durch unser Bildungssystem bereits derart korumpiert, dass sie gar nicht anders können, als zu herrschen.

Was muss man also tun in unserer heutigen Zeit, wenn man Gleicheit und Freiheit anstrebt? Was bedeutet es, in oder für einen Staat zu arbeiten und gleichzeitig zu wissen, dass dieser Staat, wie wir ihn kennen, in seiner kapitalistischen Form, niemals kollektive Gleichheit und schon gar nicht individuelle Freiheit fördern möchte? Wie soll man Menschen erreichen, die davon überzeugt sind, dass die bürgerliche, repräsentative, kapitalistische Demokratie als die einzig mögliche und beste aller Regierungsformen gilt? Wie solle man jemanden, der gewohnt ist, regiert zu werden, davon überzeugen, dass er keine Regierung braucht, die ihm sagt, wo er lang zu gehen hat?

Siebzig Jahre europäische Wohlstandsdemokratie haben dazu geführt, dass wir Alternativen zur heutigen Lebensform kaum noch denken können, selbst wenn wir uns die schlichte Wahrheit, die Kropotkin vor mehr als hundert Jahren in wenigen Fragen formulierte und die bis heute nichts an Gültigkeit verloren hat, vor Augen führen: Wir sind reich in unseren zivilisierten Gesellschaften. Woher also das Elend, das um uns herum herrscht? Warum da die harte, die Massen abstumpfende Arbeit? Warum diese Unsicherheit, wie es einem morgen ergehen wird, die selbst den bestbezahlten Arbeiter nicht verschont? Warum alles dies inmitten der von der Vergangenheit ererbten Reichtümer und trotz der gewaltigen Produktionsmittel, die bei einer täglichen Arbeit von nur wenigen Stunden allen den Wohlstand schaffen könnten?

Was ist also zu tun?


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