literaturgeschichten | chronos | kommentar | publikationen | index | downloads | impressum
blättern [zurück] [weiter]

Marie Langer
31. 8. 1910 Wien | Buenos Aires 22. 12. 1987



Wien | 1910 Geboren

Am 31. August 1910, dem Tag, an dem Marie Lisbeth Glas (verheiratete Langer) in eine großbürgerliche, assimilierte jüdische Familie geboren wurde, geschah nichts Aufsehenerregendes. Die Tagespresse berichtete, daß es in einigen Teilen der Donaumonarchie Probleme mit der Cholera gab, in Ungarn eine Fleischnot wegen der hohen Preise herrschte, der Laibacher Gemeinderat kurz vor der Auflösung stand, in Salzburg ein Treffen auf Regierungsebene zwischen Italien und Österreich stattfand, im Dobratsch ein Tourist verunglückte und in Neustift am Walde ein Großbrand ausbrach. Doch das waren alltägliche Ereignisse. Wichtiger war, daß die drei wohl bedeutendsten sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, an denen sich Marie Langer seit ihrer Jugendzeit aktiv beteiligte, 1910 ihren Institutionalisierungsprozeß fortsetzten.

Im August fand in Kopenhagen ein Kongreß der sozialistischen Internationale statt, wo sich jene Nationalitätenkonflikte zeigten, die in der gesamten Donaumonarchie zu Unruhen und Zerfallsprozessen führten. Auf dem Kopenhagener Kongreß wurde die Einheit des internationalen Sozialismus beschworen, die mit einem starken Zentralismus erkauft werden sollte: Möge es so werden, wie es heute Adler sagte: daß der Beschluß der Internationale von den tschechischen Genossen nicht als Demütigung oder Beleidigung aufgefaßt wird, sondern als eine Mahnung an ihr proletarisches Gewissen, an ihre Treue zur Internationale, als ein Mahnruf, zurückzukehren zu den Pfaden und Wegen, die uns der internationale Sozialismus weist! (Arbeiter-Zeitung 1910:2)

Gleichzeitig rangen die sozialistischen Frauen auf ihrer internationalen Konferenz, die ebenfalls in Kopenhagen stattfand, um eine einheitliche Linie in der Frage des Frauenwahlrechts und Alexandra Kollontai, jene russische Revolutionärin, die zu den Heldinnenfiguren in Marie Langers Jugend zählte, stellte dieselbe Kapitalismuskritik in den Vordergrund, die von Marie Langer später ebenfalls vehement vertreten wird, denn der Wohlstand der Bourgeoisfrauen ist aufgebaut auf der Ausbeutung und Entrechtung der großen Mehrheit proletarischer Frauen. (...) Selbstverständlich sind auch die Frauen der höheren Stände der Mißhandlung durch rohe Männer ausgesetzt. Aber die Proletarierinnen sind doppelt Sklaven, Sklavinnen der Männer und der Frauen der besitzenden Klassen. Sie führen den Kampf nicht gegen ihre Männer und Brüder, sondern gegen den Kapitalismus. (Arbeiter-Zeitung 1910:5)

Und nicht zuletzt war auch die psychoanalytische Bewegung 1910 in eine entscheidende Phase ihrer Institutionalisierung getreten. Im März fand der 2. psychoanalytische Kongreß in Nürnberg statt, auf dem die straffere Organisierung der Bewegung und die Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) beschlossen wurde, damit die Einheit der psychoanalytischen Bewegung gewährleistet bleibt. Sigmund Freud schreibt am 3. April 1910 an Sandor Ferenczi: Mit dem Nürnberger Reichstag schließt die Kindheit unserer Bewegung ab; das ist mein Eindruck. Ich hoffe, jetzt kommt eine reiche und schöne Jugendzeit. (Freud/Ferenczi 1993:235) Marie Langer wird also geboren, als die Kindheit der psychoanalytischen Bewegung zu Ende gegangen war und die Voraussetzungen zur Etablierung einer Institution geschaffen wurden, in der sie selbst später ihre Karriere als lateinamerikanische Psychoanalytikerin machen konnte.

Es folgt einer gewissen historischen Logik, wenn Marie Langer in ihrer Autobiographie Von Wien bis Managua schreibt: Geboren 1910 also gehöre ich fast diesem Jahrhundert. (Langer 1986:25) Dieses fast meint nach meiner Auffassung, daß ihre Biographie eng mit den drei wesentlichen sozialen Bewegungen unseres Jahrhunderts verbunden ist: der Arbeiterbewegung (marxistischer Ausrichtung), der Psychoanalyse und der Frauenbewegung. Ein Motor dieser Bewegungen war die österreichisch-ungarische Donaumonarchie. Vor allem Wien und seine nahe Umgebung wurde zu einem der bedeutendsten europäischen Zentren des sogenannten fín de siecle. Wien war nicht nur Hauptstadt, sondern vor allem auch ein Geisteszustand, der auf das übrige Europa nicht ohne Auswirkungen blieb.

Die Stadterweiterung wurde vorangetrieben, die Sozialdemokratie stieg zu einer führenden politischen Kraft auf, Frauenbewegungen traten mit ihren Forderungen vehement an die Öffentlichkeit, und das liberale Bürgertum wurde als bestimmende Führungskraft von den Christlich-Sozialen abgelöst, denn mit dem Bürgermeister Karl Lueger regierten antiliberale Strömungen wie Antisemitismus, Klerikalismus und ein kleinbürgerlicher Sozialismus. Kunst und Kultur blühten wie nie zuvor. Kokoschka, Loos, Schönberg, um nur einige Namen zu nennen, wandten sich gegen den bürgerlichen Gebrauch der Kunst als kulturelle Kosmetik. (Schorske 1982:343) Erotik und Sexualität standen im Mittelpunkt heftigster öffentlicher Diskussionen, an denen sich vor allem auch Frauen in größerer Anzahl beteiligten. Gerade zur Frage der Sexualität gab es eine differenzierte Haltung der Gesellschaft: einerseits wurde sie tabuisiert (Aufklärung der Jugend fand nicht statt, Frauen durften keine Sexualität zeigen), andererseits machten sie viele Künstler/innen und Wissenschafter/innen zum Thema ihrer Arbeit, wie z.B. Gustav Klimt, Sigmund Freud und Rosa Mayreder.

Gerade die Sexualität und ihre Normierung durch die bürgerliche Gesellschaft haben auch Marie Langer während ihres gesamten Lebens beschäftigt. Es ist für mich kein Zufall, daß sie später die Berufslaufbahn einer Psychoanalytikerin einschlug und sich nach ihrer Emigration nach Argentinien sehr eingehend mit der psychischen Präsenz von weiblicher Sexualität im Zusammenhang mit dem Problem der Mutterschaft auseinandersetzte. Seit ihrer Kindheit wurde sie mit den Problemen von Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft konfrontiert. Das Bürgertum, in das sie geboren wurde, war geprägt von einer heuchlerischen Doppelmoral, die einerseits die Sexualität der Frau verbot und tabuisierte, andererseits jedoch die sexuellen Eskapaden der Männer tolerierte. Nicht viel anders verhielt es sich im Hause der Familie Glas. Rudolf Glas (Vater) und Margarethe Glas (Mutter), geborene Hauser, hatten zahlreiche Liebschaften und diese brachten zahlreiche Lügen und Heucheleien mit sich, wie ihre Mutter sagte: Wir armen Frauen, immer den Männern untertan, was bleibt uns außer der Lüge? (Langer 1986:35)

Margarethe Glas erfand zahllose Geschichten über Liebhaber und fiktive Väter Marie Langers, die einer Art Suche nach der eigenen Identität glichen - vor allem einer sexuellen Identität. Vielleicht war es auch nur ein Versuch sich von ihrem Mann abzugrenzen, sich außerhalb jener Lebensform zu definieren, die damals als die einzig mögliche für Frauen angesehen wurde: der Ehe. (Langer 1986:37) Frauen mußten, wollten sie nicht unmittelbar aus ihren Ehen ausbrechen, betrügen und lügen, um sich ein gewisses Maß an Freiraum zu schaffen, ohne dabei der gesellschaftlichen Verfemung anheimzufallen, denn die bürgerliche Gesellschaft verkündete lautstark, daß die Frauen keinen Beruf erlernen sollten, außer jenen der Mutter und Ehefrau, damit sie in materieller Abhängigkeit vom Mann bleiben. Auch die Jungfräulichkeit gilt als eine der höchsten Tugenden, die ein Garant dafür ist, daß die Frau mit möglichst wenig sexuellen Erfahrungen in die Ehe geht. Und gleichzeitig soll die Frau von den für Männer vorbehaltenen Bildungsbereichen ferngehalten werden, um ihnen so den Zugang zur wissenschaftlich-intellektuellen Entwicklung zu nehmen. Generell soll also die Überlegenheit des Mannes durch die Inferiorisierung der Frau gesichert werden.

Gegen diese, von außen aufgezwungene Grenzziehung, konnte sich Margarethe Glas niemals wehren, sie blieb in diesem Raster der Weiblichkeit eingeschlossen, während es ihrer Tochter gelang, als eine Art Stellvertreterin für ihre Mutter, aus diesem System der Unterdrückung auszubrechen. Marie Langer ist mit ihrer Autobiographie (ich meine auch mit ihrem Leben) für das Recht ihrer Mutter auf Selbstbestimmung und eigene Ich-Identität als Frau eingetreten: Als alte Frau wollte meine Mutter ihre Lebensgeschichte schreiben. Aber ich weiß nicht, ob sie (...) die Wahrheit hätte schreiben können. Schließlich hat sie gar nichts geschrieben, und mir scheint, als wäre ich für sie eingesprungen. Wenn ich mich für die Rechte der Frauen einsetze, dann auch deshalb, weil ich meiner Mutter zu ihrem Recht verhelfen will. Es tut mir leid, daß meine Mutter einen großen Teil ihres Lebens als Dame vergeuden mußte. Das war nicht ihre Schuld; sie hätte gern Besseres geleistet, und sie hatte die Fähigkeiten dazu. (Langer 1986:39)

Margarethe Glas wuchs bereits mit Gouvernanten und all dem zum Großbürgertum gehörenden Luxus auf. Sie stammte aus einer jüdischen aber atheistischen Familie. Unter dem ‚Makel‘ Jüdin zu sein, hat sie ihr Leben lang gelitten, denn es bedeutete Nicht-katholisch zu sein, was sie zur Außenseiterin machte. Eigentlich gehörte sie aber zu keiner der beiden religiösen Gemeinschaften, da sie sich nicht für eine der beiden entscheiden konnte. Die Folge davon war, daß sie am Ende ihres Lebens nicht auf dem jüdischen Friedhof beerdigt wurde, weil sie die in den Exiljahren enorm angewachsene Steuersumme, die von der israelitischen Kultusgemeinde eingefordert wurde, nicht bezahlte.
Um ihre Mutter zu charakterisieren, setzt Marie Langer ihr die Person Alexandra Kollontais entgegen, einer Revolutionärin, die dem oben beschriebenen Schicksal entronnen ist und deren Autobiographie sich ein wenig wie Marie Langers eigene Lebensgeschichte liest. Alexandra Kollontai war also das Gegenteil ihrer Mutter, denn sie emanzipiert sich aus ihrem bürgerlich-aristokratischen Milieu, empfindet ein tiefes Unbehagen gegen die sozialen Ungerechtigkeiten ihres Landes, wendet sich der Revolution zu und muß schließlich ins politische Exil gehen. Abgesehen von diesen persönlichen Details, steht im Mittelpunkt ihrer Autobiographie die Befreiung der Frau aus ihren sexuellen und politischen Ketten. Alexandra Kollontai gehörte nach deren eigenen Worten noch zu der Generation der Frauen, die auf dem Wendepunkt der Geschichte aufgewachsen sind. Die Liebe mit ihren vielen Enttäuschungen, mit ihren Tragödien und ewigen Forderungen nach vollkommenem Glück spielte noch eine größte Rolle in meinem Dasein. (...) Wir, die Frauen der vergangenen Generation, verstanden es noch nicht frei zu sein. Es war eine ganz unglaubliche Vergeudung unserer Seelenenergie, eine Herabsetzung unserer Arbeitskraft, die sich in unschöpferische Gefühlserlebnisse verströmte. (...) Trotzdem wie viel mehr hätten wir schaffen und erreichen können, wenn unsere volle Energie nicht im ewigen Kampfe mit dem eigenen Ich und mit den Gefühlen zu einem Anderen sich zersplittert hätten. Es war in der Tat ein ewiger Abwehrkrieg gegen den Eingriff des Mannes in unser Ich, ein Kampf auf dem Gebiete des Problems: Arbeit oder Ehe und Liebe. (Kollontai 1970:10-11)

Marie Langers Mutter hingegen setzte auf die romantische Liebe. Was blieb ihr auch anderes übrig? Trotz ihrer Begabung und ihrer physischen Stärke konnte sie ihrem Schicksal nicht entrinnen und ihrem ausgeprägten Bedürfnis, sich irgendwo zu verwirklichen, nicht nachgehen. In dieser Selbstverwirklichung wurde sie von Marie Langers Großmutter (Regina Hauser, geborene Rosenbaum) gehindert, die sie zwang, ihre Ausbildung abzubrechen, weil sie sie auf einer Reise nach Ägypten begleiten sollte; aber auch ihr Ehemann war indirekt daran beteiligt, da sein Reichtum sie zur Dame machte und es ihr verunmöglichte zu arbeiten oder zu studieren, denn im Wien der Jahrhundertwende hatten Damen mehr ‚Recht‘ auf einen Ehebruch als auf Studium oder Arbeit. (Langer 1986:35)

Nachdem ihr Karrieren im Bildungs- und Arbeitsbereich verschlossen blieben, konnte sie nur noch eine vorbildliche Karriere als Ehefrau und Mutter antreten. Sie verwaltete die komplizierte Institution des Hauses, das für sie als Dame ihre offizielle Daseinsberechtigung darstellte, und in diesem Haushalt lebte die Familie Glas zu viert: die Eltern, Marie und ihre Schwester (Gucki Eva Glas). Weiteren Nachwuchs verhinderte sie mit einem silbernen Pessar. Ihrer Mutter widmete Marie Langer mehr Raum in ihrer Autobiographie als ihrem Vater, nicht zuletzt aus dem bereits erwähnten Grund, daß die Frau eine derart zentrale Rolle in der Erziehung der Kinder einnimmt und daher eine stärkere Auseinandersetzung zwischen Mutter und Kind gefördert wird, um so mehr im Falle Marie Langers, die sich aus der Treibhauskultur der Wohlerzogenheit, die aus Frauen Luxusgeschöpfe machte, befreien wollte und sollte.

Rudolf Glas erhielt weit weniger Raum in ihrer Autobiographie. Dies ist einerseits Ausdruck einer positiven Identifikation Marie Langers mit ihrem Vater und hat andererseits mit der Rolle zu tun, die die bürgerliche Gesellschaft dem Vater zudachte. Der Vater war im 18. Jahrhundert aus dem Hause vertrieben worden (ohne dabei großen Widerstand zu leisten) und repräsentierte von nun an die Außenwelt und die moralischen Gesetze. Während Mutterschaft und Mütterlichkeit hoch bewertet und Verstöße gegen den geforderten Verhaltenskodex streng bestraft wurden, gab es praktisch kein Verständnis für Väterlichkeit, und schlechte Väter wurden kaum bestraft (im Gegensatz zu schlechten Müttern), während die guten Väter hoch gelobt wurden. Ein guter Vater zu sein, grenzte an eine Heldentat; eine gute Mutter zu sein, war selbstverständlich. (Vgl. Badinter 1984)

Marie Langer spricht wenig über Väterlichkeit, wendet sich im theoretischen Diskurs vor allem der Mütterlichkeit zu. Ihre Ansichten zur Väterlichkeit blieben immer auf der persönlich-biographischen Ebene und in diesem Zusammenhang meint sie, daß sie eigentlich zwei Väter gehabt habe, denn hinter ihrem realen Vater stand der alte Kaiser Franz Josef, den sie für unsterblich hielt und dessen Tod (1917) sie nicht realisieren konnte, was bewies, wie unabänderlich selbst für meine Familie und vielleicht die österreichische Bourgeoisie überhaupt das Kaiserreich auf sozialer und nationaler Ebene war. (Langer 1986:27-28)
Eine - im Gegensatz zu ihrer Mutter - positive Identifikation mit ihrem Vater war aus mehreren Gründen möglich: Er war nicht machistisch, hatte eine kritisch-pazifistische Einstellung, eine nicht unbedingt ausgeprägt religiöse Beziehung zum Judentum und litt wegen seines Reichtums unter Schuldgefühlen. Entscheidend für die positive Identifikation war jedoch, nach Marie Langers Ansicht, die Einberufung ihres Vaters an die Front zu Kriegsbeginn 1914. Er ging in einem Augenblick, wo sie ihn am nötigsten gebraucht hätte. Doch dieses Weggehen des Vaters weckte in ihr den Wunsch, ihm zu folgen und dadurch auch den Willen den Beruf einer Krankenschwester zu ergreifen, wodurch sie entscheidend von der Lebenserfahrung ihrer Mutter abwich.

Dem Vater verdankte die Familie Glas auch ihr gesichertes Einkommen, denn sie besaßen eine Textilfabrik in der Tschechoslowakei (Sudetenland), wahrscheinlich im Gerichtsbezirk Zwickau, was aus Marie Langers Meldeanschriften zu schließen ist, die auf dieses Gebiet verweisen. (DÖW/Aktenzahl 19711) Marie Langer berichtet in diesem Zusammenhang auch von einer Doppelhochzeit (1904) ihres Vaters und dessen Bruder Alfred Glas mit ihrer Mutter und deren Schwester Steffi Glas (geborene Hauser), die sie unter dem Aspekt sieht, daß mit der Mitgift der beiden Schwestern die damals noch kleine Firma ausgebaut werden konnte. Die Eheschließung und die daran geknüpften Gerüchte und erfundenen Geschichten ihrer Mutter sind übrigens die seltenen Fälle, in denen Marie Langer eine Verbindung zwischen ihren Eltern herstellt, wo sie in der Erinnerung gemeinsam auftreten. Auch hier das typisch Bürgerliche: die Distanz der Ehepartner, die nur durch das gesellschaftliche Band der Ehe verbunden scheinen.

Die Familie ihres Vaters fühlte sich den religiös-jüdischen Traditionen verpflichtet. Der Vater hielt sich als Kind daran, gab sie aber nach seiner Eheschließung weitgehend auf. Juden zu sein, bedeutete für die Familie Glas/Hauser oft auch eine gesellschaftliche Benachteiligung. So mußte sich Emil Glas, der zweite Onkel Marie Langers, taufen lassen, um einen Lehrstuhl an der medizinischen Universität zu erhalten, denn der Antisemitismus war in allen Schichten, Institutionen und politischen Lagern der österreichischen Bevölkerung stark ausgeprägt. Trotz diesen Vorbehalten gegen Juden schafften es die Familienangehörigen der Glas, Karriere zu machen. Alfred Glas wurde Anwalt, Maries Vater Staatsanwalt und Emil Glas ordentlicher Professor an der medizinischen Fakultät.

Von den vielfältigen Karrieremöglichkeiten im jüdischen Bürgertum profitierte also auch die Familie Glas. Und dieses Milieu des assimilierten jüdischen Großbürgertums hatte auch bei Marei Langers Hinwendung zu Psychoanalyse und Marxismus Pate gestanden. Ihre Autobiographie gibt jedoch nur wenig Auskunft über ihre jüdische Herkunft und die Motivationen mit dieser zu brechen. Nur sehr oberflächlich berichtet Marie Langer über die Vergangenheit und die damit in Zusammenhang stehenden Abgrenzung zum Christentum, die nur in einem kurzen Nebensatz Erwähnung findet. (Langer 1986:34-35) Marie Langer war sich ihrer Herkunft und der daraus resultierenden Benachteiligung jedoch durchaus bewußt. Dieser Bewußtheit und ihrem ausgeprägten Sinn für Vergangenheitsbewältigung steht der geringe Raum gegenüber, den sie in ihrer Autobiographie der Frage ihrer Herkunft einräumt. Ich möchte nun zeigen, wie das sehr periphere Erwähnen dieser Problematik eine Fortsetzung der allgemein verbreiteten Verdrängung im assimilierten, bürgerlichen Milieu darstellte (Embacher 1991:60-64), und wie wenig sich die jüdische Tradition als Widerstandsform gegen ihre Eltern und ihr Milieu eignete. Dazu möchte ich Auszüge aus einem Interview bringen, das ich mit Erika Danneberg geführt habe.

Raimund Bahr: Was weißt du über die Handlungsmotivationen Marie Langers, die sie dazu brachten, sich der Psychoanalyse und dem Kommunismus zuzuwenden; also rauszutreten aus ihrem großbürgerlichen Milieu?
Erika Danneberg: Wir haben darüber sicher nie explizit gesprochen. Ja, es war uns beiden naheliegend, individuell politische Entwicklungen auch zu verstehen aus der individuellen Lebensgeschichte. (...) Ihre individuelle Lebensgeschichte war dabei eigentlich nie ein Thema, teilweise habe ich sie aus Büchern gekannt, und teilweise ist sie so irgendwie eingeflossen. (...) Es muß sehr viel über ihre Mutter gelaufen sein und zwar im positiven wie im negativen Sinne. (...)
Rationale Erklärungen (...) gibt es eine ganze Menge: der heraufkommende Faschismus; sich darum bemühen, die Wurzeln zu verstehen; und wenn man die Wurzeln der Entstehung des Faschismus verstehen will, dann stößt man auf den Marxismus, dann stößt man auf die Klassenwidersprüche. Also die rationalen Ursachen sind nicht schwer abzuleiten und die ‚renegadas de su clase‘, die die Erfahrung gemacht haben, daß ihnen auch der Erwerb von bürgerlichen Gütern - und die Glas waren eine zumindest wohlhabende, wenn nicht reiche Familie - nichts nutzen ‚denn Juden san‘s und Juden bleibens‘, und als Juden werden sie schließlich erschlagen und deportiert. Das war zwar damals noch nicht, wie die Marie ganz jung war, aber das hat sich abgezeichnet. Also der jüdische Zugang geht, glaub ich, über die spezifisch jüdische Diskriminierung, die sich - wie die Erfahrung lehrt - nicht damit wegschaffen läßt, daß man europäische Bildung und großbürgerliches Vermögen erwirbt.
Inwieweit hat Marie Langers jüdische Herkunft eine Rolle gespielt, in ihrer Motivation zum Widerstand gegen ihre eigene Klasse zu gelangen? Sie war ja eine sehr widerständige Frau.
Die Marie hat ein jüdisches Schicksal gehabt, nämlich das der Emigrantin. Das wär vielleicht auch passiert, wenn sie nicht jüdisch gewesen wäre. Es sind genug Leut auch emigriert, weil sie Kommunisten, weil sie in Spanien waren und sind nicht dewegen nach Spanien gekommen, weil sie Juden waren. (...) Nach meinen Erfahrungen mit gelebtem Judentum, mit jüdischen Menschen, ist, (...) daß man Judentum nicht los wird, nur weil man sagt: für mich ist die Frage erledigt. Für den einzelnen Juden, für die einzelne Jüdin kann die Frage erledigt sein, für den Antisemiten ist die Frage nicht erledigt; und im Augenblick der Konfrontation gehörst du dazu, ob du willst oder nicht. Und gehörst dazu, weil du eine jüdische Geschichte hast.
Es gibt also zwei Motivationsströme. Einerseits widersprach das Großbürgertum ihrem Naturell...
Ja, völlig.
Andererseits war da ihre jüdische Herkunft, also die zweite Widerstandsebene: der Antisemitismus ließ sie nicht zur Semitin werden, sondern sie koppelte sich vom Judentum ab und kam so zum Widerstand, wobei das naheliegendste die Psychoanalyse und der Marxismus waren. Das wäre sozusagen die hintergründige Interpretation. Das vordergründige war Kiel, das ist das, was sie in ihre Autobiographie hineingeschrieben hat.
Dazu muß man aber sagen, daß das unsere persönliche Interpretation ist.
Ja, sicher! (...)
Was mir einfällt ist, daß die Marie viel offener über ihre Liebschaften schreibt als über die jüdische Frage. Also die Sexualität, das Leben der Sexualität als Frau, viel deutlicher als eine Protestwurzel vermittelt wird, als das Erleben von Diskriminierung auf Grund von ‚Jüdisch-sein‘.
Und worauf führst du das zurück?
Ich kann mir nur vorstellen, daß das Aufbrechen der Verleugnung von Sexualität, der betriebenen bürgerlichen Verleugnung von Sexualität, durchaus im Zuge der Zeit war - und Freud ist ein Auslöser und zugleich ein Produkt dieser Atmosphäre vom Aufbrechen der Verleugnung von Sexualität.
Für die Frau hat er es nicht so sehr gut geschafft, das hat die Marie dann schon besser können. (...)
Also ich glaube, daß die Verleugnung der Sexualität viel leichter aufzubrechen war, als die Verleugnung der Diskriminierung als Juden und das speziell bei assimilierten, bürgerlichen Juden, die damit die Hoffnung genährt haben, sie könnten dem jüdischen Schicksal entgehen.
Heißt das, daß Marie Langer mit ihrem Judentum im Widerstand gegen ihre Eltern nicht bestehen hätte können? Widerstand gegen ihre Eltern hätte ja bedeutet, das Judentum annehmen zu müssen. Wenn ich mir ihren Vater und ihre Mutter vor Augen halte (wie Marie Langer sie beschrieben hat): die Mutter will eigentlich keine Jüdin sein und gibt ihrer Tochter extra einen katholischen Namen; der Vater praktiziert seit seiner Heirat nicht mehr; beide verdrängen ihre jüdische Herkunft. Marie Langer vollzieht das, zumindest in der Autobiographie nach, ich beschäftige mich nicht, ich trete einfach aus, sagt sie. Aber hätte sie ihren Widerstand mit Hilfe des Judentums leisten wollen, hätte sie dieses konsequenter Weise (...) annehmen, (die Verleugnung) aufdecken müssen. Da ihr das aber nicht möglich war, wendet sie sich einer anderen Widerstandsform zu, um zu provozieren: nämlich der Sexualität. (...)
Ja, das klingt plausibel. Ich glaub die Rückkehr ins Judentum, hätt’ sich auch ‚gebissen‘ mit ihrer sexuellen Revolution, die sie für sich vollzogen hat. (Danneberg 24/3/1992)

Die sexuelle Revolution war Marie Langer also wichtiger als die jüdische Tradition, das Aufdecken der jüdischen Diskriminierung in einer assimilierten Umgebung schwieriger als das Aufdecken der sexuellen Diskriminierung ihres Frau-seins. Gleichzeitig widersprach die jüdische Tradition ihrer Vorstellung von einer aktiven Sexualität, denn ein jüdisches Mädchen durfte vor der Ehe keinen Geschlechtsverkehr haben und schon gar nicht mit wechselnden Partnern. Daher machte sich Marie Langer auf die Suche nach geeigneteren Widerstandsformen und Lebensentwürfen.

Einen solchen Lebensentwurf fand sie später bei der KPÖ im politischen Engagement und in der Psychoanalyse verbunden mit einer beruflichen Karriere. Dieses politische Engagement drückt sich auch deutlich in ihrer Autobiographie aus, denn Marie Langer legte ihr zwei Schwerpunkte zugrunde, was ihre Kindheit und vor allem Jugend betraf. Sie rückte ihre jüdische Herkunft zu Gunsten der Klassenfrage in den Hintergrund, denn sie wollte nicht als klassisches jüdisches Schicksal in der Erinnerung der Menschen erscheinen.

Berthold Rothschild: Sie gehörte eigentlich zu der Kategorie jener Juden/Jüdinnen, die das Jüdische aus politischen Gründen abwerfen - etwa im Sinne Isaac Deutschers ‚Der nichtjüdische Jude‘.(...) Sie werden Agnostiker, lehnen die Religion als bürgerliche Institution oder als Ideologie ab. In der Dynamik baut sich gerade wiederum eine spezifische Identität auf. (...) Das ist auch historisch charakteristisch, daß diese Juden/Jüdinnen den Hauptwiderspruch in der Klassentheorie festmachten und damit den Antisemitismus und all das als eine Zuordnung zum Hauptwiderspruch sahen und sich deshalb bemühten, das jüdische Schicksal fast beiseite zu schieben, damit das Klassenschicksal weiterhin im Vordergrund bleibe. Das war für ganz viele linke Juden/Jüdinnen eine Doktrin, daß sie eben nicht wie die anderen wehleidigen Juden ein spezifisches Schicksal artikulieren, sondern daß sie daraus ein Klassenschicksal artikulieren wollen. (...) Jetzt könnte man psychoanalytisch sagen, wenn jemand in der Autobiographie das Jude-sein so unterschlägt, dann ist das ein aktiver Prozeß, das ist nicht Vergessen, das ist eine Konfiguration, die die Mimi gewählt hat, aktiv, um sich selbst in ihrer eigenen Identität, aber auch in der Repräsentanz für die anderen als Linke darzustellen, um nicht verwechselt zu werden mit dem jüdischen Schicksal. (Rambert/Rothschild/Valk 19/8/1992)

Die Loslösung vom Elternhaus gelang also durch eine aktive Sexualität, durch eine positive Identifikation mit dem ideologischen Feind des Bürgertums - dem Kommunismus - und einer negativen Identifikation mit ihrer Mutter. Doch das kam später erst. Dazwischen lag eine durchaus behütete Kindheit, denn der Reichtum des gehobenen Bürgertums gab der Familie materielle Sicherheit, ihre Positionen im öffentlichen Leben ermöglichte ihnen Einfluß und beides zusammen eröffnete den Kindern einen Zugang zu höherer Bildung.

Marie Langer bezeichnete sich selbst als ein aufgewecktes Mädchen. (Langer 1986:27) Mit ihrer Schwester Eva Glas (Gucki) verstand sie sich jedoch nicht besonders gut, weil diese ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter hatte, wodurch Gucki immer eifersüchtig auf Marie herabblickte. Marie und Eva bewohnten ein sonniges, weißes Schlafzimmer; an allen Wänden hing ein Streifen mit Illustrationen. Eigentlich hatte Marie Langer aber drei Geschwister: einerseits Eva und andererseits ihre Cousine Lizzi und ihren Cousin George (Geo), die Kinder von Alfred Glas und Steffi Hauser, die ebenfalls im Hauser Palais wohnten und sozusagen ihre Nachbarn waren.

Geo war fünf Jahre älter als Marie; sie spielten gemeinsam mit Zinnsoldaten, im Gegensatz zu Gucki, die gerne mit Puppen spielte, und sie versprachen einander einmal zu heiraten. Als Erwachsener erfuhr Geo ein tragisches Schicksal: Er leugnete seine jüdische Herkunft, blieb in Österreich und wurde schließlich wie seine Frau (Margarethe Glas-Larsson) nach Auschwitz deportiert. Beide überlebten das Konzentrationslager, aber ihre Ehe wurde geschieden. Geo, der Bruder und Verlobte aus Marie Langers Kindheit, beging bald darauf Selbstmord.

Mit ihrer zweiten Schwester Lizzi (sie sahen sich äußerlich sehr ähnlich) verband sie eine tiefe Zuneigung, die mehr als eine Schwesternliebe war: Als wir Mädchen waren, haben wir uns sehr geliebt. Mehr, als sich Schwestern lieben. Wir waren uns ziemlich ähnlich, auch wenn Lizzi viel hübscher war als ich: sie hatte ein griechisches Profil, breitere Lippen und lebhaftere Farben; ich galt als die ‚Intelligente‘. Oft nannte man mich Mizzi, und fremden Leuten gegenüber, die uns manchmal verwechselten, gaben wir uns als Zwillinge aus. (Langer 1986:51)

Mit ihr verband sie eine Freundschaft, die viel Erotisches enthielt, ohne daß diese Erotik auch ausgelebt wurde. Gemeinsam erlebten sie ihre ersten Erfahrungen mit Alkohol und Liebe; vor allem in Liebesangelegenheiten verhielten sie sich sehr solidarisch, denn beiden waren Freunde verboten. Lizzi liebte Erich; Marie liebte Peter. Aber davor lag noch der Erste Weltkrieg und die Volksschulzeit.

Der Krieg und die daraus resultierende Notsituation ging auch an der Familie Glas/Hauser nicht spurlos vorüber, doch obwohl gespart werden mußte, herrschte kein wirklicher Mangel. Marie besuchte eine private Volksschule, in der sie mit vielen jüdischen Mädchen beisammen war. Daß sie Jüdin war, empfand sie zwar als Nachteil, aber das Schicksal ihrer Mutter, dies auch als Makel zu erleben, blieb ihr erspart. Nach der Volksschule besuchte sie eine vornehme Schule für höhere Töchter, wo sich bereits ihre Leidenschaft für Politik zeigte, was nicht zuletzt auch mit ihrem Staatsanwalt-Vater zusammenhing. Im letzten Jahr an dieser Schule organisierte sie eine Art Parlament, in dem Denunziantinnen mit Strafe belegt wurden. Schließlich wechselte sie ins Lyzeum, wo sie auf Grund der Angst ihrer Mutter sie könnte an Tuberkulose erkranken, wie ihr Onkel Franz (Mutterbruder), der wegen einer Krankheit seine Jugend in einem Schweizer Kurort verbringen mußte, ein Schuljahr verlor. Ich glaube, daß dieses Jahr ihr die Möglichkeit gab, sich von ihrer Erziehung und ihrem Elternhaus abzukoppeln und einen ersten selbständigen und sehr bedeutenden Entschluß für ihre zukünftigen Lebensweg zu fassen: das Lyzeum zu verlassen und in ein Gymnasium einzutreten, was ihr später ein Studium ermöglichen würde.

Ihre in der Kindheit angelegten Identifikationsmöglichkeiten, einerseits die negative mit ihrer Mutter, was zur Ablehnung des Lebensentwurfes Dame führte, und andererseits die positive mit ihrem Vater, was die Annahme einer Berufswahl im Sozialbereich förderte, begannen nun manifest zu werden, das heißt, Marie Langer begann sich offensiv selbst zu bestimmen, vor allem in ihren Beziehungen zu Männern und damit verbunden in ihrer Sexualität. Und dieses Spiel mit Männern, in dem sie die attraktive, erotische Frau, die sexuelle Partnerin war, die durchaus auch eine aktive Rolle einnahm, gab sie bis zum Ende ihres Lebens nicht auf, auch wenn es nach dem Tod ihres zweiten Mannes Max Langer schwieriger wurde, ihre Sexualität gemeinsam mit Männern tatsächlich auszuleben. (Münk 19/5/1992)

Seit ihrem 12. Lebensjahr, in diesem tritt sie auch in das Privatgymnasium der Eugenie Schwarzwald, die sogenannte Schwarzwaldschule ein, zeigt sich eine Haltung des Widerstandes, der eigenen Identitätssuche und der Rebellion gegen die bestehenden sexuellen, politischen und sozialen Normen, denen Frauen im allgemeinen unterworfen wurden (und werden). Ein wesentliches Element war, wie schon erwähnt, die Sexualität, sicherlich wegen des hartnäckigen Schweigens, das in ihrer Familie über dieses Thema herrschte, verbunden mit dem Ideal der jungfräulichen Braut. Also ging Marie Langer daran sich zu informieren, las in Enzyklopädien nach und versuchte das Schweigen der Nicht-Aufklärung zu durchbrechen. In dieser Phase der Identitätssuche kommt der Schwarzwaldschule eine bedeutende Rolle zu. Gegründet wurde sie von Eugenie Nussbaum (verheiratete Schwarzwald) 1901 als Lyzeum, um damit ihr bis dahin vordringlichstes Ziel, die Gründung einer achtklassigen Mädchenmittelschule, die den Frauen den Zugang zur Universität sichert, zu verwirklichen. (Goellner 1986:60) Dies gelang Eugenie Schwarzwald schließlich im Herbst 1911 als nach einem ein Jahrzehnt dauernden Kampf mit der österreichischen Schulbürokratie das erste private Mädchenrealgymnasium in Wien eröffnet wurde. Es waren wahrscheinlich ihre eigenen Erfahrungen ausschlaggebend dafür, daß sie in jahrelanger Arbeit, mit ungewöhnlicher Dynamik und Energie dazu beitrug, die höhere Mädchenbildung in Österreich zu reformieren und den Frauen den Zugang zur Universität ermöglichte. (Goellner 1986:153)

Auf Grund ihres vielfältigen Bekanntenkreises im künstlerischen, frauenbewegten und parteipolitischen Bereich gelang es ihr, zahlreiche fortschrittliche Männer und Frauen für die Lehrtätigkeit an ihrer Schule zu gewinnen, um ihr so eine marxistisch-feministische Ausrichtung zu geben. Zu dem Lehrpersonal der ersten Jahre zählten der Maler Oskar Kokoschka als Zeichenlehrer; Leo Bloch, erster Leiter der Gymnasialkurse und Altphilologe, organisierte die Kurse didaktisch und entwarf erste Lehrpläne. Adolf Loos, der auch Teile der Schule einrichtete, hielt Fortbildungskurse in Kunstgeschichte. Neben diesen berühmten tauchen auch noch weniger bekannte Lehrkräfte auf, die aber für die Entwicklung der Mädchenbildung in Österreich von großer Bedeutung waren: Adele Ott, Amalie Mayer, Rudolf Ortmann, Marcel Ray und nicht zuletzt Josefine Weissel, die zum Zeitpunkt von Marie Langers Eintritt in das Realgymnasium Direktorin der Schule war. Zu dieser Zeit war die Schwarzwaldschule bereits in eine Vereinsanstalt umgewandelt worden, wodurch die Schule subventioniert und die Lehrer zum Teil in den Bundesdienst übernommen werden konnten, um so ihre finanzielle Absicherung besser zu gewährleisten. Neben einer gesellschaftspolitisch Aufgabe erfüllte die Schule aber auch für die dort unterrichteten Mädchen eine wichtige Funktion, denn sie half vielen von ihnen, ihre Wünsche und Bedürfnisse im Bezug auf ihre späteren Berufskarrieren zu entwickeln. Eugenie Schwarzwald und die späteren Lehrerinnen, im Falle Marie Langers z.B. die Sozialdemokratin Arline Furtmüller, boten Identifikationsmöglichkeiten für einen weiblichen Lebensentwurf in einer von Männern dominierten Gesellschaft, von denen auch Marie Langer profitierte, denn sie gehörte zu jenen Schülerinnen, die ihre Identität immer über ihre eigenen Interessen formierte und sich nicht über die Wünsche und Vorstellungen eines Ehemannes definierte. Welchen Einfluß diese Schule auf Marie Langers Entwicklung hatte und wie sie durch sie gerade in feministischer Hinsicht geprägt wurde, zeigt folgende Episode, die sie berichtet: Einmal verabredeten wir uns beim Eislaufverein um 12 Uhr mittags, so daß wir beide die Schule schwänzen mußten. Ich täuschte Übelkeit vor, die Lehrerin fragte mich, was los sei. Ich antwortete - scheinbar schamhaft -, daß ich die Menstruation bekommen habe. Die Lehrerin schickte mich zur Direktorin - und deren Reaktion auf mein ‚Unwohlsein‘ vergesse ich nie: ‚Dieses Mal kannst du gehen, aber denk daran: wenn du studieren und arbeiten willst wie ein Mann, dann benütze nie mehr deine ‚weibliche Schwäche‘ als Ausrede!‘ Ich verstand sie, und ich habe mich nie mehr so verhalten. (Langer 1986:46)

Die Lehrerinnen und Direktorinnen der Schwarzwaldschule intervenierten oft auch direkt und gaben hilfreiche praktische Ratschläge, ließen es aber nicht dabei bewenden, sondern initiierten auch Selbstverwaltungsprojekte der Schülerinnen, um das Verhältnis zwischen den an der Schule beteiligten Menschen zu demokratisieren und vertrauter, menschlicher und geselliger zu gestalten. Die Schwarzwaldschule muß also auf Marie Langers späteres Leben einen enormen Einfluß gehabt haben, denn sie setzte sich später immer für weibliche Lebensentwürfe ein, für eine solidarische Haltung in der Gruppe und wurde so zu einer lebensbejahenden Frau, wodurch sie zu einer Identifikationsfigur für viele Psychoanalytikerinnen werden konnte.

Eines ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch interessant, daß sich Marie Langer nicht der Sozialdemokratie, sondern der kommunistischen Partei zugewendet hat, obwohl die Schwarzwaldschule in vielerlei Hinsicht Beziehungen zur Sozialdemokratie aufwies. Bereits ihre Gründerin Eugenie Schwarzwald hatte Kontakte zur Freien Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler und viele Schwarzwaldschülerinnen und Lehrerinnen waren mit Sozialdemokrat/inn/en befreundet oder verheiratet. Auch die neben der Schule betriebenen sozialen Hilfswerke, die teilweise als kommerzielle Betriebe geführt wurden, wie z.B. eine Taxigesellschaft, eine Gemüsefarm, Jugendwerkstätten, Gemeinschaftsküchen, Erholungs-, Lehrmädchen- und Arbeiterkinderheime nahmen sozialdemokratische Errungenschaften des Roten Wien vorweg. Trotz dieser engen Verknüpfung von Sozialdemokratie und Schwarzwaldschule schloß sich Marie Langer 1933 der kommunistischen Partei an. Hier kam ihr Wunsch zum radikalen Bruch mit ihrer Familie und der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft am deutlichsten zum Ausdruck, ihr Wille sich widerspruchsfrei zu verwirklichen, was ihrer Meinung nach nur durch revolutionäre Bewegungen möglich wäre. Dies zeigt einmal mehr, daß die Schwarzwaldschule nicht indoktrinierte, sondern Spielraum für freie, selbstbestimmte Entscheidungen ließ.

In dieser Hinsicht spielte im Zusammenhang mit ihrer bevorstehenden Eheschließung mit Herbert (Teddy) Manovill Arline Furtmüller eine besondere Rolle, denn nach Marie Langers eigenen Worten war sie dafür verantwortlich, daß sie nicht dem Lebensentwurf der Dame gegenüber ihrer Berufskarriere als Ärztin den Vorzug gab. Das aufgeklärte Klima, das in der Schwarzwaldschule herrschte, stärkte Marie Langers Wille zur Abkoppelung von ihrer bürgerlichen Existenz und intensivierte ihre damalige Liebe zu Peter Rodeck Freiherr von Roderbruck - er war katholisch und von niederem Adel - die schließlich in ihre erste sexuelle Erfahrung mündete. Marie Langer bezeichnet ihr erstes Mal als sehr schön, gleichzeitig half es ihr, die Jungfräulichkeit loszuwerden, aber es war auch von Tragik gekennzeichnet: Der Tag, an dem wir zusammen ins Bett gingen - in einem Zimmer, das wir uns besorgt hatten -, war einer der glücklichsten meiner ganzen Jugend. Ich war gerade fünfzehn Jahre alt geworden. Wir haben uns für denselben Tag der nächsten Woche am selben Ort wieder verabredet. Er kam nicht. Ich war bestürzt und schließlich verzweifelt. (...) Später rief mich sein Freund Kurt an; Peter liege - nach einem Motorradunfall auf dem Weg zu unserer Verabredung - im Allgemeinen Krankenhaus im Sterben. (...) Ich ging nach Hause, schloß mich im Badezimmer ein, ließ mich auf den Boden fallen und weinte, weinte, weinte. So habe ich mich nie wieder in meinem Leben gefühlt - als ob die Kristallschale, die mich bis dahin vor Leben und Fühlen geschützt hatte, ein für allemal zerbrochen sei. (Langer 1986:61)

Lizzi, Erich, Peter und Marie versuchten ihre Freizügigkeit, wenn auch möglichst geheim, auszuleben, bekamen dadurch aber einen schlechten Ruf, was Marie Langer aber nicht sonderlich störte. Trotz des Glücks, das sie mit Peter erlebte, trennte sie sich nach drei Jahren von ihm, weil sie nicht an die Dauerhaftigkeit dieser Beziehung glaubte, nicht zuletzt weil Peters Unfall sie traumatisiert hatte. Erich und Lizzi hingegen heirateten. Nach ihren Erfahrungen mit Peter folgten jene mit Micky, einem 25-jährigem Mann, der als gute Partie von ihren Eltern als ihr künftiger Ehemann auserkoren worden war, und in den sie sich nach heftigen Interventionen ihrer Eltern korrekt verliebte. Als jedoch im Zuge der Wirtschaftskrise von 1927 die Firma der Familie Glas/Hauser vom Konkurs bedroht war, lehnten Mickys Mutter und sein Onkel eine Verheiratung ab. Marie Langer hatte also, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen ihrer Generation, zahlreiche Möglichkeiten, Erfahrungen zum Thema Liebe, Sexualität und Ehe zu sammeln, ehe sie sich verheiratete. Mit George erlebte sie eine kindliche Verlobungszeit, mit Peter erfuhr sie Glück und Schmerz in sexueller wie partnerschaftlicher Beziehung, die Machenschaften ihrer Eltern in Bezug auf Micky und ihre eigene Einwilligung in diesen Handel zeigten ihr die käufliche Liebe des Bürgertums.
blättern [zurück] [weiter]

[Zitierte Literatur] | [Abkürzungsverzeichnis] |

autor: raimund bahr | eingestellt: 29.6.2019 | zuletzt aktualisiert: 18.7.2020
index: [a] | [b] | [c] | [d] | [e] | [f] | [g] | [h] | [i] | [j] | [k] | [l] | [m] | [n] | [o] | [p] | [q] | [r] | [s] | [t] | [u] | [v] | [w] | [x] | [y] | [z]


literaturgeschichten | chronos | kommentar | publikationen | index | downloads | impressum