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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 19 | Hans Jonas

An dieser Stelle soll es nicht um die Gemeinsamkeiten im Werk zweier herausragender Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts gehen. Es gibt auch hierzu genug hervorragende Literatur (Konrad Paul Liessmann, Christian Driess). Nur soviel sei gesagt: Hans Jonas und Günther Anders haben die Frage nach einer sich immer stärker technisierenden Welt und den sich daraus ableitenden Implikationen und politischen Moralvorstellungen unterschiedlich beantwortet. Hier soll die Geschichte einer langen, wenn auch oft nicht ganz konfliktfreien Freundschaft erzählt werden, die sich zwischen zwei Denkern aus gemeinsamen Studientagen entwickelte und bis zum Tod von Günther Anders anhielt.

Ihr gemeinsamer Weg hatte schon vor Heidegger begonnen. Insofern war Hans Jonas tatsächlich Günther Anders' alter Freund, wie er ihn in Briefen manchmal anredete. Aus dieser Freundschaft entwickelte sich im Laufe der Jahre eine Vierecksgeschichte, in deren Zentrum Hans Jonas stand. Die beteiligten Personen waren Günther Anders, Eva Michaelis-Stern, Hannah Arendt und Hans Jonas, die sich in unterschiedlichen Konstellationen begegneten und miteinander korrespondierten. Zeigen läßt sich all das anhand des Briefwechsels zwischen Hans Jonas und Günther Anders, der sich im philosophischen Archiv der Universität Konstanz befindet. Datiert ist er von 1950 – 1986 und beinhaltet auch Briefe von Hannah Arendt und Eva Michaelis-Stern.

Hans Jonas spielte in diesem Beziehungsnetz eine wichtige Rolle, da er als einziger die Spur von Günther Anders in seine Jugendtage zurückverfolgen konnte, also für alle Beteiligten einen idealen Gesprächspartner abgab, wenn es darum ging, einerseits die Veränderungen, die in Günther Anders vorgingen, zu verstehen, andererseits die Sorge um ihn mit jemandem zu teilen, der wußte, warum es Anlaß zur Sorge gab: "Entschuldige, dass ich Dich mit meinen Problemen belaste, aber es gibt hier niemanden, der Günther kennt oder sich ein Urteil erlauben kann. Du bist der einzige, der Einblick in die Problematik hat und mich beraten kann. Du wirst Dich erinnern, dass ich Dir schon in Sonnmatt offen gesagt hatte, dass ich manche seiner Reaktionen sehr an der Grenze fand – aber Dich trotzdem ermutigt habe, ihm Deine Freundschaft nicht zu entziehen." (Michaelis-Stern an Jonas / 16.3.1988 / PAK)

Hans Jonas und Günther Anders lernten sich bereits 1921 in Freiburg kennen: "Als ich einige Jahre später […] wieder nach Freiburg kam, hatte ich mich inzwischen mit Günther Stern angefreundet. Er war mir schon in meinem ersten Semster aufgefallen, doch damals hatte ich mich noch nicht an ihn herangewagt, sondern ihn von ferne bewundert. Ich wußte, wer er war, und fand ihn großartig. Er war ein Jahr älter als ich und hatte daher auch ein Jahr vor mir zu studieren begonnen. Außerdem war er der Sohn des berühmten Hamburger Professors William Stern und ein sichtlich genialer junger Mann, so daß ich mich ihm gegenüber sehr schüchtern verhielt." (Jonas 2003:84) Bereits in Freiburg wurde aus der Zweierkonstellation eine Dreierkonstellation, da Günther Anders offensiv daran arbeitete, seine Schwester mit Hans Jonas zu verkuppeln. Günther, der sich immer auch ein wenig als Evas Beschützer verstand, war wohl eine Zeitlang auf der Suche nach einem Bräutigam für seine Schwester. Aus Eva und Hans Jonas wurden später gute Freunde, sie besuchten sich regelmäßig und korrespondierten miteinander. Für Eva Michaelis-Stern, die Nachgeborene von Günther, war Hans Jonas der einzige, mit dem sie vor allem in der Zeit nach dem Tod von Hannah Arendt und dem Ende der Ehe zwischen Günther Anders und Charlotte Zelka die Situation ihres Bruders diskutieren konnte, um so eine Einschätzung der Lage zu bekommen. Hans Jonas war der einzige, der Günther Anders lange genug kannte, um die Beziehung zu Hannah Arendt und Günther Anders‘ verrücktes Verhalten bei ihrem Tod richtig einschätzen zu können.

Nach dem Zwischenspiel in Freiburg zog Hans Jonas zuerst nach Berlin weiter, um schließlich 1924 ebenfalls bei Martin Heidegger in Marburg zu landen, wo er Hannah Arendt kennenlernte und eine tiefe Freundschaft zu ihr entwickelte, die auch erwidert wurde. Hannah Arendts geheime Beziehung zum König der deutschen Philosophie und ihre daraus resultierende Suche nach einer Vertrauensperson machten es unmöglich, daß mehr aus dieser Beziehung werden konnte: "Wir redeten viel, denn sie brauchte eine Vertrauensperson. Das ist mit ein Element, das dazu beitrug, daß es zu keiner erotischen Beziehung zwischen uns kam, da man nicht gleichzeitig Vertrauter und Liebhaber sein kann." (Jonas 2003:113)

Die Beziehung zu Günther Anders nahm Hans Jonas in Berlin wieder auf, wo sie 1923 "gemeinsam ein Seminar von Eduard Spranger über Kants Kritik der reinen Vernunft besuchten. Nach einer Seminarsitzung, in der ich mich an der Diskussion beteiligte, sprach Günther Stern mich draußen an und machte mir irgendein Kompliment zu meinem Beitrag. Und so begann unsere Freundschaft." (Jonas 2003:84)

Die beiden Duos Arendt – Jonas und Jonas – Anders begegneten sich unabhängig voneinander an unterschiedlichen Orten: Marburg, Freiburg, Heidelberg und Berlin. Aus diesen beiden Duos wurde erst nachdem Hannah Arendt und Günther Anders beschlossen hatten zu heiraten ein Trio: "Als ich 1928/29 den Winter in Paris verweilte, erhielt ich eines Tages die Nachricht, sie hätten beschlossen, zu heiraten, und ich war so begeistert – schließlich handelte es sich um meinen besten Freund und meine beste Freundin!" (Jonas 2003:167)

Die Emigration riß die drei Freunde bald wieder auseinander. Das Trio überstand diese schwierige Zeit allerdings in einer anderen Konstellation, als es von seinem Beginn her zu vermuten gewesen wäre. Während sich das Verhältnis zwischen den Eheleuten langsam löste, von seiten Günther Anders‘ nur geographisch, von seiten Hannah Artendts auch psychologisch, blieben beide mit Hans Jonas befreundet. Nach der Scheidung 1933 wurde Hans Jonas zu einer Mittlerfigur in dem prekären Verhältnis zwischen den ehemaligen Ehepartnern. Unmittelbar nach dem Krieg bis Mitte der siebziger Jahre trübte sich aber auch das Verhältnis zwischen den beiden alten Freuden ein. Günther Anders, der nach dem Krieg in Wien saß und in der wissenschaftlichen Welt kaum Anerkennung fand und mit seiner Positionierung gegen die Atomgefahr als Apokalyptiker abgestempelt wurde, war von Bitterkeit und gekränkter Eitelkeit gezeichnet, wie Hans Jonas in seinen Erinnerungen schrieb. Der Schock der Wiederbegegnung war für Hans Jonas deswegen so groß, weil er nach dem Krieg in Wien einen vollkommen anderen Menschen vorfand. Manche Treffen hinterließen bei ihm nicht nur Bedauern über die Wandlung seines Freundes, sondern auch maßlose Enttäuschung. Eine Briefstelle zeigt, wie schwierig es für Hans Jonas in manchen Phasen der Freundschaft gewesen sein muß, diese aufrecht zu erhalten: "Eine grausamere Enttäuschung habe ich nie erfahren. Die schlechten Zeiten hat er schlecht ertragen, die guten jetzt erträgt er noch viel schlechter; sie haben ihn schlecht gemacht und selber unerträglich, haben seine einstmals liebenswürdige Menschlichkeit aufgezehrt und innerlich nichts als nackte Eitelkeit, mit Neid und Rachsucht versetzt, äusserlich die abgeschmackteste (sicher auch aufschneiderische) erfolgsgeschwellte Ruhmredigkeit übriggelassen. Körperlich wieder gut beisammen, von den mitleiderregenden gichtverkrümmten Fingern abgesehen, ist er seelisch zum hässlichen und gehässigen Zwerg geschrumpft, im Geistigen einfach töricht geworden, verblendet und urteilslos. Ein Menschheitserretter, der den Menschen nicht mehr sieht – keinen Menschen –, geschweige denn liebt; der Prophet, der nach dem Friedensnobelpreis schielt (keine Vermutung, sondern vor meinen ungläubigen Ohren als Erwartung ausgesprochen!); der von so erworbenem Weltruhm wiederum die Möglichkeit erwartet, es denen heimzuzahlen, die ihn verkannt und gekränkt haben." (Jonas an Arendt / 11.6.1959 / PAK)

Mit dem Tod von Hannah Arendt, der Trennung von seiner dritten Frau Charlotte Zelka und der damit einhergehenden tiefen Lebenskrise, entspannte sich das Verhältnis zwischen den beiden Freunden wieder. Anders fand im Zuge der Friedens-, Antiatom- und Ökologiebewegung und seiner zentralen theoretischen Rolle darin endlich jene Anerkennung, die er immer gesucht hatte. In derselben Bewegung gelang es auch Hans Jonas, mit seiner Ethik der Nachhaltigkeit eine ganze Generation junger Leser zu erreichen. Aus diesen gesicherten Positionen wurde eine versöhnlichere Haltung dem jeweils anderen gegenüber möglich. Die Dreierkonstellation Hannah-Hans-Günther wird durch Eva-Hans-Günther ersetzt. Hans Jonas übernahm neuerlich eine Vermittlungsrolle zwischen einer Frau und Günther Anders, diesmal zwischen Bruder und Schwester, wie Briefe belegen: "Leider hat sich Günthers (viel zu) junge Frau Charlotte entschlossen, sich von ihm zu trennen – sie ist in Amerika bei ihrer Schwester und geht nicht zu ihm zurück. Nun mit 73 allein geblieben zu sein, ist sehr bitter für ihn und die Tragik ist noch schlimmer, weil er schon seit einigen Jahren nichts mehr schreibt und im Grunde in seiner selbstgewählten Isolation von allen Menschen (ausser Liesl, seiner vorigen Frau, die er weggeschickt hat, die sich aber immer noch rührend um ihn kümmert) keinen einzigen Menschen hat, mit dem er sich verträgt oder Freundschaft gehalten hat. Charlotte konnte diese Isolation auf die Dauer nicht vertragen – was in ihrem Alter nur zu verständlich ist. Leider kann ihm niemand helfen – vielleicht schreibt Ihr ihm mal – aber keinen ‚Kondolenz‘-brief, den hat er sich auch von mir verbeten." (Michaelis-Stern an Jonas / 22.9.1975 / PAK)

Hans Jonas kam über die Jahrzehnte nicht zufällig in die Rolle des Vermittlers zwischen den Frauen und Günther Anders, sondern weil er durchaus in der Lage war, dem oft eigenwilligen und sturen Freund die Meinung zu sagen. Bei anderen hätte Günther Anders wahrscheinlich die Beziehung abgebrochen, zu Hans Jonas hielt er sie immer aufrecht. Ein gutes Beispiel bietet der Briefwechsel anläßlich des Todes von Hannah Arendt. Anders in seiner tiefen Trauer schrieb an Hans Jonas: "Vermutlich ist es Dir nicht ganz klar, wie wenig gut es mir geht. Die drei Dinge: Hannahs Tod – der 4. Dezember steht, war gestern, ist heute und wird morgen sein – das absolut nicht mehr arbeiten können und der Zusammenbruch der 18jährigen Ehe mit Charlotte, von der ich höchst merkwürdige, höchst verdächtige Briefe bekomme – diese drei Dinge zusammen sind einfach mehr, als was ich mit meinen beinahe 74 Jahren verarbeiten kann." (Anders an Jonas / 14.2.1976 / PAK)

Hans Jonas reagiert darauf schärfer als gewohnt, da er diese emotionale Beteiligung am Tod Hannah Arendts durch seinen Freund für übertrieben und unangemessen empfand: "Darf ich mir, lieber Günther, noch ein Freundeswort erlauben? Ich habe kein gutes Gefühl bei Deiner schrankenlosen Hingabe an die Trauer um Hannah. Ich spreche als einer, dessen Schmerz wohl kaum geringer sein kann. Aber die Lebenden (Dich selber eingeschlossen) haben den ersten Anspruch, und der lebenden Charlotte, die 18 Jahre ihr Leben mit dir geteilt hat, scheint mir etwas Unrecht zu geschehen. Ich kenne nicht die Umstände des Verlassens und rede insofern von etwas, worüber ich nichts weiss. Aber dass 18 Jahre zählen und Ehrung verdienen, im Haushalt der Erinnerung und darüber hinaus, dass weiss ich. Und ich glaube, dass Du nicht einmal Hannahs Gedächtnis einer alles andere verdrängenden Fixierung machst. Sie war immer für die Lebenden da." (Jonas an Anders / 1.3.1976 / PAK)

Hans Jonas war und blieb für Günther Anders der wichtigste Gesprächspartner, der seinen Zustand auf Grund der gemeinsamen Geschichte und der gemeinsamen schriftstellerischen Erfahrungen einschätzen konnte. Schon in den fünfziger Jahren haben sie sich gegenseitig ihre Manuskripte zugesandt und einer den anderen mit Kritiken unterstützt: "Es ist phantastisch, zu entdecken, dass wir zwei trotz jahrzehntelanger Trennung und gegenseitigem Nicht-Verständigtsein derart ähnliche Dinge gedacht haben; und ich begrüsse diese Arbeiten über die Jahrzehnte hinweg." (Anders an Jonas / 19.9.1954 / PAK)

Dieses gegenseitige Wohlwollen gab wahrscheinlich auch den Ausschlag für die Versöhnung nach den schwierigen Jahren unmittelbar nach dem Krieg. In den späten siebziger und achtziger Jahren wurde das Verhältnis schließlich von der Wertschätzung für das Leben und Werk des jeweils anderen getragen: "Nur dass es mir vielleicht noch schwerer fällt als früher […] etwas dazwischen zu schieben, wenn ich in etwas anderem drinstecke, und ich stecke dauernd. Aber wie langsam! Schreiben kommt mir schrecklich sauer, ich weiss nicht, wieso ich gerade dieses Handwerk ergriffen habe. Wenn Du mich um meine Arbeitskraft beneidest, die ich eben bitter nötig habe, so ich Dich um Dein angeborenes schriftstellerisches Talent, das sich nicht zu quälen braucht und den Weg vom Gedanken zum mot juste mit überzeugender Unmittelbarkeit findet. Und damit zu Dir." (Jonas an Anders / 8.4.1977 / PAK)

"Völlig unrecht hast Du, mich wegen meiner schriftstellerischen Begabung zu beneiden. Es gibt kein Manuskript von mir, das ich nicht (unübertrieben) zwanzig Male umgeschrieben hätte, ich stammle auf dem Papier, freilich in Glücksfällen sieht das dann aus wie oratorische Flüssigkeit. Im Gegenteil: Du bist der flüssig Schreibende und Sprechende (ich bin ein ganz schlechter öffentlicher Redner). Meine Begabung ist Musik und bildende Kunst, dass ich Autor wurde, ist ein nicht mehr zu korrigierender Fehler." (Anders an Jonas / 15.4.1977 / PAK)

Das letzte Kapitel dieser in der Philosophiegeschichte herausragenden Freundschaft zwischen Hans Jonas und Günther Anders, die weniger von inhaltlichen Übereinstimmungen, obwohl diese zahlreich waren, getragen war, sondern von enormer Zuneigung, die auch immer wieder verbal ausgedrückt wurde, schrieb Hans Jonas, der Günther Anders um ein paar Jahre überlebte. Wie sehr er an dem alten Freund gehangen hatte, in einer Welt, die mit immer weniger Menschen aus dem eigenen Zeithorizont bevölkert war, zeigt das Kondolenzschreiben an Elisabeth Freundlich zum Tod von Günther Anders: "Liebe Lisel! Gestern gab mir David Michaelis [Sohn von Eva Michaelis-Stern] aus Jerusalem Nachricht von Günthers Tod. So ist mein ältester Freund dahingegangen. Wir waren uns einst sehr nahe, haben uns als Freunde geliebt, sind dann räumlich und geistig verschiedene Lebenswege gegangen, aber noch seine späten Briefe an mich schloß er mit: ‚Sei umarmt‘. Wir dienten auf unsere verschiedene Weise derselben moralischen und bedrängenden Sache, als ihre Sprecher wurden wir nebeneinander berühmt und von ferne vereinte sie uns immer wieder. Ich bewunderte, was er durch viele Jahre seinem leidenden Körper abzwang, ein wahrhaft Unbesiegbarer. Nun ist auch er aus der für mich immer leerer werdenden Welt alter Freundschaften verschwunden – der erste und der letzte von allen." (Jonas an Freundlich / 1992 / LIT)
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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