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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 17 | Theodor W. Adorno

Bevor ich zu Hannah Arendt und Hans Jonas komme, noch ein kurzer Exkurs zu Theodor W. Adorno und dem den beiden Philosophen nachgesagten Konflikt. Theodor W. Adorno und Günther Anders wird eine Gegnerschaft bescheinigt, die in dieser zugespitzten Form nie vorhanden war, philosophisch nicht, und persönlich beruhten sie zum großen Teil auf Mißverständnissen. Deshalb möchte ich auch eher von persönlichen Animositäten zwischen den beiden sprechen, die sie in einem längeren Briefwechsel aus den sechziger Jahren zum Großteil ausräumten.

Begonnen hat der Konflikt in Frankfurt am Main, als sich Günther Anders mit einer musikphilosophischen Arbeit habilitieren wollte. Theodor W. Adorno arbeitete zu diesem Zeitpunkt selbst an einer musikphilosophischen Theorie, und so konnte eine Konfrontation nicht ausbleiben. 1929, Günther Anders war bereits nach Berlin übersiedelt und mit Hannah Arendt verheiratet, begann er an einer Habilitation zu schreiben, einerseits um der Notstandssituation, in der sich das Ehepaar damals befand, mit einer akademischen Karriere zu begegnen, andererseits um den Anschluß an den akademischen Diskurs zu halten. Ein erster Schritt in diese Richtung war ein Vortrag, den er 1930 in Frankfurt am Main in der Kant-Gesellschaft hielt, mit dem Titel Die Weltfremdheit des Menschen: "Wir hatten beschlossen, in Frankfurt zu bleiben, nachdem ich in der hiesigen Kant-Gesellschaft vor dem ehemaligen Frankfurter Olymp – denn einen solchen hatte es damals gegeben – vor Paul Tillich und Rietzler und Adorno, Horkheimer, Mannheim einen philosophischen Vortrag über ‚Die Weltfremdheit des Menschen‘ gehalten. Auch der damals noch ganz junge und für sein Alter viel zu brillante Dolf Sternberger war wohl dabei gewesen." (Anders 1983:12-13) Die Habilitation wurde nie anerkannt, weil Theodor W. Adorno dies mit einem Einspruch verhinderte. Später stellte Günther Anders selbst die Ereignisse außer Streit, indem er feststellte, daß Theodor W. Adorno ihm auf diesem Gebiet weit überlegen sei. In seiner Rede zur Verleihung des Adorno-Preises ging er sogar noch ein Stück weiter: "Wenn es mir zeitweise gelungen ist, Kunstwerkanalysen, nicht nur Musikanalysen, durchzuführen, die zugleich soziologisch und strukturtheoretisch waren, dann habe ich das von ihm gelernt. Danke!" (Anders 1983:13)

Während Günther Anders also keinen Groll gegen Theodor W. Adorno hegte, war Hannah Arendt in dieser Frage nicht so tolerant und blieb Zeit ihres Lebens, auch und vor allem auf Grund der Ereignisse in Frankfurt, Theodor W. Adorno gegenüber reserviert. In der Emigration selbst gab es dann zwar gelegentliche Kontakte zwischen den beiden Philosophen, doch blieben die Gespräche unverbindlich und größere Streitigkeiten aus. Neben diesen offensichtlichen und philosophischen Auseinandersetzungen thematisierte sich im Konflikt der beiden Denker aber ein grundsätzliches Dilemma, das Günther Anders seit seinem Eintritt in die Welt umtrieb: die Berufswahl. Er war sich nicht sicher, ob er eine akademische Laufbahn einschlagen sollte oder als Schriftsteller arbeiten wollte. Die verhinderte Habilitation war aber nur das Symptom eines tiefer liegenden Widerspruches bei Günther Anders selbst. Letztlich war der Briefwechsel aus den sechziger Jahren zwischen den beiden Philosophen eine nachgeholte Aussprache über Ereignisse, die rückblickend nicht von so großer Bedeutung waren, wie sie ihnen in der Situation selbst erschienen.

Günther Anders und Theodor W. Adorno lasen die Bücher des jeweils anderen und profitierten so von der jeweiligen Theoriebildung. In philosophischer Hinsicht, wenn es um die Beurteilung der Werke ging, waren die beiden durchaus in der Lage, die Bedeutung des anderen anzuerkennen. Die Kontroverse ist aus einem ganz anderen Blickwinkel als dem persönlichen oder philosophischen interessant. Beide stellten nämlich unterschiedliche Typen von Philosophen oder besser gesagt Schriftstellern dar: Günther Anders, der freie, nicht im wissenschaftlichen Milieu integrierte, nicht akademisierte Schriftsteller, und Theodor W. Adorno, der institutionalisierte, akademisierte und in den Mediendiskurs eingebundene Philosoph. Genau diesen Widerspruch thematisierte der Briefwechsel, der gleich zu Beginn die Mißverständnisse, die vor allem durch Dritte ausglöst wurden, anklingen ließ: "Was ist das für ein Wienerischer Tratsch, der sich zwischen uns drängt." (Adorno an Anders / 24.6.1963 / LIT) Sensibel, wie Günther Anders war, wenn es um seine Person und seine philosophischen und politischen Überzeugungen ging, konnten ihn Aussagen und Mitteilungen von anderen, die diese einfach so dahinsagten, bei einem kleinen Plausch oder beim small talk, so in Ärger versetzen, daß er zu Feindseligkeiten animiert wurde, die er auch gegenüber Theodor W. Adorno umgehend zum Ausdruck brachte: "Ganz konnte ich freilich dieses Zitats nicht froh werden, da ich leider gestern abend erfuhr, dass Sie wiederholt über mich aufs Verächtlichste gesprochen haben. Alltäglich ist diese Kombination von Zitieren und Verachten gewiss nicht, aber erfreulich auch nicht". (Anders an Adorno / 18.6.1963 / LIT) Dieser Brief gab den Anstoß für den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Günther Anders, in dem die gröbsten Mißverständnisse ausgeräumt wurden. Wären die Differenzen unüberwindlich gewesen, hätten sich die beiden gemeinsam mit Friedrich Heer und Gershom Sholem nicht regelmäßig in ungezwungener Atmosphäre bei der Wiener Schauspielerin Lotte Tobisch getroffen. Sie formulierte die Unterschiede zwischen den beiden folgendermaßen: "Ich glaube, daß Adorno viel mehr Möglichkeiten zum Unglück hatte wie der Anders. Er war ja trotz allem praktisch. Der Adorno war da viel schwieriger. Er war trotz allem ein weltabgekehrter Mensch. Da gab es auch die Divergenz zwischen seinem Denken und seinem Habitus. Das war bei dem Anders nicht so. Sein Habitus hat ja vollkommen seinem Denken entsprochen, da gab es keinen Bruch. Der hat so gelebt bis zu seinem seligen Ende, wie halt ein Revoluzzer lebt. Der Adorno hat einmal etwas Wunderbares gesagt. Der Anders ist ein hochanständiger Mensch, er hat nur einen Fehler, er glaubt, er sei der einzig Anständige auf der Welt." (Interview Tobisch 2006) In der Wohnung von Lotte Tobisch kam es auch immer wieder zu Diskussionen über das Fernsehen, das Günther Anders, auch wenn er es dafür nutzte, seine Informationslücken aufzufüllen, eigentlich ablehnte. Theodor W. Adorno hatte sich eines Abends wieder einmal über Günther Anders‘ Proteste gegen das Fernsehen geärgert, denn er fühlte sich in den Diskussionen oft beeinträchtigt, da er Problemstellungen, die ihm wichtig waren, eingehend darstellen wollte. Günther Anders aber verfolgte dieses und andere Themen immer mit einer Art Besessenheit, die anderen kaum noch Raum ließ. Andererseits vertrat Theodor W. Adorno seine Themen ebenso vehement und beanspruchte selbstverständlich Raum für seine Gedanken. Oft verdeckte der eine den anderen.

Folge ich dem kurzen Briefwechsel, so geht daraus klar hervor, daß sich die beiden Autoren trotz aller Kontroversen und persönlichen Animositäten sehr schätzten, jedoch über die Beurteilung anderer Menschen nicht immer einer Meinung waren, wie sie dies in Nebenbemerkungen wiederholt betonten. Theodor W. Adorno zum Beispiel: "Vielleicht helfen meine Worte, die Atmosphäre zwischen uns zu klären, die freilich noch durch ein Letztes belastet wird, das nie zwischen uns zur Sprache kam: daß Sie nämlich einmal Benjamin als Kaffeehausliteraten bezeichneten, zu einer Zeit, da Sie Herrn Heidegger für einen Philosophen hielten." (Adorno an Anders / 24.6.1963 / LIT) Anders stellte sein Verhältnis zu seinem Cousin Walter Benjamin, den er sehr verehrte und dem er einige seiner Literaturen gewidmet hatte, wie folgt dar: "Sie wissen ja wahrscheinlich, dass Walter und ich in der Pariser Zeit vor 36 (in früheren Jahren hatten wir uns nur selten gesehen) angefreundet haben, dass er mir stilistisch enorm geholfen hat; wir haben sogar etwas zusammen gearbeitet […]. Und seine Existenz ist für mich von grösster Bedeutung gewesen und geblieben." (Anders an Adorno / 27.8.1963 / LIT)

Zu den über die Jahre unausgesprochenen Dingen schrieb Günther Anders sehr präzise: "Ja, vielleicht ist es gut, dass ein paar bisher nie berührte Dinge einmal ausgesprochen werden – in unserer nun schon über Jahrzehnte ausgedehnten Bekanntschaft hat sich ja eigentlich niemals die Gelegenheit zu einem wirklich unbefangenen Gespräch ergeben. Die Bedenken haben wohl, obwohl die Affinität Ihrer und meiner Produktion (und nicht nur in den Augen Dritter) seit langem immer evidenter wird, auf beiden Seiten bestanden. Sie haben Ihre Bedenken formuliert. Lassen Sie mich nun meine aussprechen. Auf die Gefahr hin, dass sich dadurch die Spannung noch etwas verschärft. Aber vielleicht kommt es dadurch zu einem heilsamen Platzen." Es schienen ja tatsächlich "Attitüden" (Anders an Adorono / 27.8.1963 / LIT) beziehungsweise ein "Gestus von Aggressivität" und eine "Angeberei" gewesen zu sein, die zu Differenzen zwischen den beiden führten. Und hätten diese nicht bestanden, so hätten "die weitreichenden Übereinstimmungen viel fruchtbarer" sein können. (Adorno an Anders / 24.6.1963 / LIT)

Zu den zentralen Mißverständnissen, die das Verhältnis trübten, zählte auf Seiten Günther Anders' ein besonderes Ereignis, daß sich nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil ereignete: "Als kränkend, nein geradezu als Bruch einer als selbstverständlich erwarteten Solidarität empfand ich aber Ihr Benehmen, als ich nach der Remigration zum ersten Male wieder nach Frankfurt kam, um Sie, den anderen Remigranten, zu begrüssen; Sie mich aber wie einen lästigen Bittsteller durch Ihre Sekretärin mit den Worten abfertigen liessen, Herr Professor habe wirklich keine Zeit." (Anders an Adrono / 27.8.1963 / LIT) Solidarität war neben Wahrheit einer der wesentlichsten politischen Werte in Günther Anders‘ Leben und Denken. Adorno, wissend um die Wichtigkeit eines solchen Ereignisses, reagierte darauf mit einer Entschuldigung: "In der Angelegenheit Ihres Besuches hier in Frankfurt habe ich mich tatsächlich schuldig gemacht. Wenn ich Sie kränkte, tut mir das von Herzen leid." (Adorno an Anders / 31.10.1963 / LIT) Ergänzend fügte er hinzu, daß selbst Horkheimer vor einem Treffen mit ihm telefonieren müsse, um ihn zu sehen.

Vehemente Differenzen gab es aber vor allem in Bezug auf politischen Aktivismus, über die akademische Position von Theodor W. Adorno, die dieser als Garantie für philosophische Unabhängigkeit sah: "Würden Sie ein Ordinariat mit dem Maß, selbständig zu produzieren, und vor allem mit dem weitgehenden Schutz vor irgendwelchen Kontrollinstanzen, abgewiesen haben, wenn es sich Ihnen geboten hätte? Verzeihen Sie mir, wenn ich daran zweifle. Man kann doch nicht so rigoros die Frage Professor oder Nicht-Professor stellen; die Antwort hängt davon ab, welchen Inhalt man einer solchen Tätigkeit verleiht." (Adorno an Anders / 31.10.1963 / LIT)

Günther Anders hatte ein solches Angebot 1957 abgelehnt, und in seiner Antwort an Adorno schwang eine gewisse Genugtuung mit, wenn er schrieb: "Sie brauchen daran nicht zu zweifeln, die Konjunktive ‚hätte’ und ‚wäre’ sind falsch." (Anders an Adorno / 6.12.1963 / LIT) Beide hatten mit ihren Positionen natürlich aus ihrer Sicht und Interessenslage heraus recht. Für Theodor W. Adorno ging es auch darum, im akademischen Rahmen gesellschaftlichen Einfluß auszuüben, und er hat es geschafft, in seiner Zeit an der Universität einige Schüler heranzuziehen. Und er seinerseits zweifelte, ob ein Schriftsteller, "auf dem der Druck des Marktes, und vielfach der Verleger, lastet, heute tatsächlich noch soviel freier ist als ein Professor". (Adorno an Anders / 31.10.1963 / LIT) Letztlich ging es beiden um die Unabhängigkeit im Denken und Schreiben. Diese wollten sie gegen alle Widerstände in der Gesellschaft wahren. Jedem von beiden war dies auf seine Weise gelungen. Bei Günther Anders kann die radikale Ablehnung des akademischen Milieus durchaus auch auf die Zurückweisung seiner Habilitation zurückzuführen sein, auch wenn er die Aktion an sich später als durchaus richtig empfand. Denn Theodor W. Adorno erinnerte sich im Briefwechsel deutlich daran, daß Günther Anders‘ akademischer Gestus damals stärker war als jener, den er in den sechziger Jahren in seiner ablehnenden Haltung an den Tag legte.

So sehr es im Briefwechsel immer wieder persönliche Annäherungen gab und philosophische Zustimmungen, in einer Frage blieben die Positionen unversöhnlich, in dem, was ich politische Einmischung in gesellschaftliche Bedingungen nennen möchte. Auch in dieser Frage waren die Zielsetzungen und Ansichten der beiden Männer unterschiedlich. Günther Anders warf Theodor W. Adorno vor, daß es nicht möglich sei, "als Professor Nietzsche" zu leben "oder als ein surrealistischer Geheimagent. Etwas von dieser Kreuzung haben Sie aber in meinen Augen an sich. Solche Doppelexistenz muss sich, glaube ich, rächen. Ein Revolutionär – und als Theoretiker sind Sie das natürlich – der sich durch seine Stellung selbst seine Hände bindet, der erregt Mißtrauen. So war in manchen Augenblicken, in denen die politischen potatoes besonders heiß wurden […] das Stummbleiben einfach beklemmend. Soweit es mir bekannt ist, haben Sie zu derartigen issues niemals öffentlich Stellung genommen. Es ist schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass Sie sich, anerkannt als offiziell zugelassener Papst der Radikalität, in der ominösen und jämmerlichen Deutschen Bundesrepublik doch irgendwie häuslich eingerichtet haben. – Andererseits gerät man durch diese Aktionsaskese leicht in die Versuchung, sich an seinem Publikum zu rächen." (Anders an Adorno / 27.8.1963 / LIT) Die Replik von Theodor W. Adorno war eindeutig: "Sicherlich habe ich manchem Abscheulichen gegenüber geschwiegen. Aber ich bin kein Verkehrspolizist, der gleichzeitig an allen Ecken sein muß, wo Unfug verübt wird; wann ich zupacke, darüber muß ich schon mir selber die Entscheidung vorbehalten. Sie wird keineswegs immer so einfach von der Relevanz der Gegenstände bestimmt; vielfach von Innervation und Einfall. […] Über die Atombombe zu schreiben habe ich aus einem nicht leicht zu fassenden Grund immer wieder vermieden, vielleicht wegen der Disproportion zwischen der geballten Faust eines Intellektuellen und jener der Einrichtung; sicher nicht aus Feigheit." (Adorno an Anders / 31.10.1963 / LIT)

Noch deutlicher zeigten sich die Differenzen in der Frage der Adressaten ihres Schreibens, wenn es um den Leser ging: "Von dem nun, was Sie über meine Sprache schreiben, kann ich mir, ehrlich gestanden, nur sehr schwer vorstellen, daß Sie es ganz ernst meinen. Ihre Argumentation zeugt von einer wahren Besessenheit mit dem Gedanken an den Leser. Bei meinem Zeug sind Sie offenbar gar nicht auf die Idee gekommen, daß es mir nicht um diesen geht, weder darum, ihn zu fangen, noch ihn zu brüskieren, sondern einzig um die möglichst adäquate Darstellung der Sache. Das ist wohl das einzige, was man sprachlich im Ernst wider die Kulturindustrie vermag." (Adorno an Anders / 31.10.1963 / LIT) Günther Anders jedoch wollte das Massenpublikum erreichen und verfehlte es zielgenau. Auch er traf nur den gebildeten, engagierten Mittelstand: "Da liegt die grosse Schwierigkeit auch für mich. Ob es mir oft gelingt, diejenige Sprache zu finden oder zu erfinden, die wirklich die Masse trifft, ohne im mindesten Massenstil zu sein, das weiss ich nicht. Aber ihr Vorwurf, dass ich monoman an den Hörer oder Leser dächte, scheint mir unberechtigt. Die Alternative zwischen diesem meinem Bemühen und Ihrem Bemühen um ‚Strenge’ scheint mir keine echte Alternative zu sein. Schließlich setzt ja jede Form von Strenge bereits einen bestimmten Hörer voraus, eine freischwebende Strenge oder Genauigkeit – wem sage ich das? – gibt es ja nicht." (Anders an Adorno / 6.12.1963 /LIT)

Alles in allem bleiben in der Differenz tatsächlich nur persönliche, charakterliche Unterschiede, an die Dinge heranzugehen. Von der Zielvorgabe waren sich die beiden ähnlicher, als sie es wahrhaben konnten oder wollten. Die Abgrenzung basierte auf Eitelkeiten, auf einem Entwurf des eigenen Genies. Die Differenzen gingen aber nicht so weit, um den Kontakt gänzlich abzubrechen: Letztlich bleibt, daß sich hier zwei Männer begegneten, die von der Persönlichkeit und vom Herkommen sehr unterschiedlich waren. Der eine, Günther Anders, immer schon Schriftsteller von Kindesbeinen an, immer mißtrauisch dem Akademismus gegenüber, der andere im akademischen Milieu zu Hause, das ihm jenen Freiraum gab, um mit anderen in Kontakt zu treten und zu bleiben, ein sozusagen vororganisierter sozialer Rahmen, den sich Günther Anders immer wieder selbst schaffen mußte und irgendwann nicht mehr konnte. Die Entstehung dieser Vereinsamung, unter der Günther Anders am Ende seines Lebens in Wien litt, läßt sich auch anhand des Briefwechsels Adorno-Anders nachweisen, wo er mit radikaler Rhetorik formulierte, was ihn im Alltag, im Leben in die Isolation trieb: "Nein, den Burgfrieden kann ich nicht mitmachen, da reduziere ich lieber den Kreis derer, mit denen ich verkehre, im Notfall auf zero; faktisch auf die paar absolut Vertrauenswürdigen und auf die Jüngeren, die die Chance hatten, sich noch nicht besudeln zu können." Und weiter schrieb er: "denn ich riskiere Schritte, die wie mangelnde Kinderstube oder jugendbewegt aussehen mögen; aber ich bin alt genug, um zu wissen, dass es kein zu hoher Preis ist, wenn man seine Unnachgiebigkeit mit der (auch mir nicht gerade angenehmen) jugendbewegten Direktheit bezahlt." (Anders an Adorno / 27.8.1963 / LIT)

Er war sich also seiner Haltung und seiner Wirkung bewußt. Sie mag ja in den dreißiger Jahren, als er jung und eingebunden war in ein bürgerliches, intellektuelles Milieu, das sich revolutionär gab, durchaus reizvoll gewesen sein, vor allem auch für Frauen. Doch im Alter schien diese Haltung, auch auf Grund seiner zunehmenden Unbeweglichkeit durch die starke Arthritis, zur bloßen Rhetorik verkommen zu sein und mag daher völlig deplaziert gewirkt haben. Dennoch scheint diese Haltung seine einzige Strategie gewesen zu sein, auf das in der Welt Geschehene und den Wunsch der Gesellschaft, dieses zu verdrängen, reagieren zu können, denn "anzugeben und aufzutrumpfen scheint mir, wenn Sie darunter die Demonstration der Distanzierung verstehen, einfach geboten. Da die Nachhitler-Welt so tut, als wäre nichts gewesen, muss, so scheint mir, das ‚Es ist gewesen und ist deshalb auch heute noch’ von uns ausdrücklich betont werden." (Anders an Adorno / 27.8.1963 / LIT) Günther Anders‘ Empörung war Ausdruck eines Gefühls der Ohnmacht, die nicht selten in Aggressivität gegen seine Freunde und Mitdenker umschlug, auch wenn diese, wie Theodor W. Adorno, durchaus auf seiner Seite gewesen wären.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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